Helmut Walther (Nürnberg)

Zur Philosophie Nietzsches    

Nietzsche – Mensch und Übermensch (1988)

Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur Schüler bleibt.(1)

Nicht das Christentum ist es, wie etwa Nietzsche meint, durch welches eine "negative Umwertung" aller so wunderbaren Werte der Antike herbeigeführt worden sei: Das Christentum ist von seiner Funktionalität her keine Entgegensetzung, sondern Fortsetzung der Antike, noch ist das wahre Christentum auf seiner inneren, existentiellen Seite Entgegensetzung, es sei denn gegen den jüdisch-orthodoxen, unlebendigen Formalismus. Vielmehr ist auch noch das Christentum und dessen "Sieg" eine Folge der Reflexion, zu welchem die Antike selbst im Übergang vom Mythos des Verstandes über die Vorsokratiker zur Vernunft-Philosophie einen ganz erheblichen Teil beitrug. Daher denn auch die Angriffe Nietzsches gegen Sokrates und Platon, in deren Schritt in die Rezeption der Vernunft und hin zum "wahren Sein" im Gegensatz zum Schein, der bloßen Erscheinung und doxa, mithin zum Idealismus und in einen Qualitätswechsel des Gottesbildes (daimonion, "göttlicher Funke", "summum bonum") er zu Recht bereits jenen "Verrat am gesunden Instinkt" wittert. Auf den Punkt gebracht, ist es diese neue Stufe des Mensch-Seins selbst, das Existieren in Reflexion, das von Nietzsche mittels dieser selben Reflexion abgelehnt wird, und zwar, wie bereits Kierkegaard richtig erkannt hat, aus Verzweiflung der Vernunft über sich selbst – doch es führt kein Weg zurück. Ist es schon paradox (und undankbar), dass die Vernunft hier abdanken will, weil und soweit sie sich mittels dieser Reflexion als Reflexion erkennt, was eher einer funktionellen Selbsterkenntnis zuzurechnen ist; so gibt es auf der existentiellen Seite noch weniger ein Zurück hinter die daraus resultierende neue höchste Existenzform als "konzentrierte Liebe": Ist doch selbst noch diese Verzweiflung der Vernunft über sich selbst eine direkte Folge gerade dieser Liebe – die Folge eines unbedingten Bewusstseins der Gerichtetheit, welche allerdings sich selbst als Reflexion nicht loslassen will. Die Vernunft setzt sich hier zwar nicht selbst die und als Bedingung des Existierens, aber als das Mittel zur Erkenntnis dieser Bedingung, welche nach rückwärts vermeintlich im Instinkt zu finden sei, und so kommt es zu jenem Paradox in Nietzsches Auffassung: Jene höchste Liebe soll es sein, in deren Namen niedrigste Grausamkeiten geradezu notwendig "vom Leben selbst" gefordert würden ... In Wirklichkeit ist solche "Liebe" Verzweiflung, ein direkt-proportionales Umschlagen der zunächst positiven Gerichtetheit in ihr Gegenstück angesichts der Unerfüllbarkeit der Einlösung des positiven Gehalts, unerfüllbar jedenfalls dann, wenn die Vernunft an sich selbst festhalten will – der Fall des enttäuschten Liebhabers auf der Stufe der Vernunft. Nein, mit solcher "Liebe" wird sich keine Zeitenwende verbinden, die Lehre des Antichrist Zarathustra ist kein Vorschreiten der Kategorien in innerer Folgerichtigkeit und Notwendigkeit, welche die Sehweise des Daseins erhöht, sondern ein gewaltsamer Rückschritt der Vernunft hinter sich selbst. Zarathustra scheidet noch immer zwischen Gut und Böse, zwischen Dekadenz und Gesundheit – auch das ist noch Moral, eine Instinkt-Moral der Gegensätze, in deren Dienst die Vernunft über Wert und Unwert des Daseins richten soll.

Nietzsche ist bis heute – als einer der meistzitierten Philosophen – einer jener wenigen Denker, die von der philosophischen Seite her den Geist des sich mit ihm Befassenden in Bewegung zu setzen vermögen; seine wortgewaltige Aufdeckungspsychologie treibt zu leidenschaftlicher Konzentration der Innerlichkeit seines Lersers – die Sättigung und Selbstzufriedenheit von Emotio, Verstand und Vernunft werden als haltloser Pfuhl demaskiert, zu dessen Überwindung Härte gegen sich selbst notwendig sei. Insoweit geht er den Weg der Reflexion der Vernunft noch einmal und mit den neuen Mitteln unserer Zeit (vor allem in seiner oft erhellenden Psychologie), wie diesen Weg in rezipierender und existentieller Weise die Antike von den Vorsokratikern über Sokrates und Platon bis hin zu einem Jesus zu gehen hatte: Nietzsche leistet (neben anderen, wie etwa Schopenhauer, Kierkegaard und Freud) einen Teil der Reflexion dieses Weges via Vernunft, indem er das Pathos der Vernunft sich selbst zu verstehen lehrt. Sein sich Entgegensetzen zu Sokrates, Platon und Jesus ist das Paradebeispiel einer fehlerhaften Konsequenz (damit aber noch immer ein Beispiel von grandioser Konsequenz ...), an der das Dämonische einer solchen falschen Rückwärtswendung im Philosophischen sichtbar wird (ein halbes Jahrhundert vorher, bevor es den Deutschen zufiel, dies in der Realität zu unternehmen): die "Liebe" als konzentrierte Leidenschaft verwendet und verschwendet auf ein zu ihr unterkategorielles Ziel.(2)

Zwei äußere Anlässe aktualisieren das Thema Nietzsche: Es jährt sich derzeit (1988) der erste schlimme offene Ausbruch dieses Dämons, verbagatellisiert "Reichskristallnacht" genannt, zum fünfzigsten Male – der Hass, die Selbst- und Rachsucht in ihrer pervertiertesten Form als "Liebe zu Volk und Vaterland", als Blut- und Boden-Mythos im Dienste der Rassereinheit; und hier konnte sich das damalige Regime durchaus auf Nietzsche berufen, wenn auch in einseitiger "Exegese" – denn Nietzsche seinerseits zog bereits gegen den Antisemitismus zu Felde, als man sich diesen wie etwa ein Richard Wagner noch als "vaterländische Tugend" gutbrachte. Andererseits wird aus der Möglichkeit eines derartigen Missbrauchs die Erklärung Nietzsches zur Unperson, seine Verbannung in den Giftschrank in der ehemaligen DDR, oder die Nietzsche-Kritik Otto Flakes in der Nachkriegszeit durchaus verständlich. Ein weiterer Anlass des Gedenkens ist der Umstand, dass sich um diese Zeit zum 100. Male Nietzsches einsame "Überschreitung des Rubico" jährt, Zarathustras Turiner "Untergang" ... die Auflösung seines Geistes, war das wirklich jene Müdigkeit, die das Glück einholte?(3) Welchen Rückschluss hinsichtlich der Funktion Geist, einmal gesehen auf den Fall Nietzsche im Besonderen, mehr noch vielleicht ganz allgemein, lässt jener fast schon schauerlich anmutende Kontrast zu, wenn man dem blitzeschleudernden Streiter für das dionysische Leben, der Zeit und Welt in zwei Hälften zu spalten trachtet, wie er aus den letzten veröffentlichten Schriften spricht, seine wohl aus gegebenem Anlass mehrfach schriftlich niedergelegten privaten Verhaltensmaßregeln für das tägliche Leben gegenüberstellt, welche bereits früher in ihrer subjektiven Einseitigkeit des Öfteren sogar Eingang ins Werk fanden?

"Wasser trinken.
Nie spirituosa.
...
Morgens ein Glas Thee: kalt werden lassen!
nachts etwas wärmer!
...
nicht Brille auf Straße
nicht in die Menge gehn!
...
keine Briefe schreiben
Abends warme Kleider!"(4)

Wirkt eine solch kleinliche Selbstbeobachtung und offenbar notwendige Selbstmaßregelung bei einem "weltregierenden Geist" nicht paradox und seltsam? Ist dieser Geist nicht bereits gespalten? Dabei kann der Anteil, den an dieser Spaltung die Krankheit einerseits, die funktionale Dauerbelastung des Denken-Müssens andererseits sowie die vollständige Isolation haben mögen, dahingestellt bleiben – letztlich handelt es sich wohl um eine Wechselwirkung aller drei Momente am Ende eines Weges, an der Mauer einer Sackgasse, an welcher es kein Fortkommen und kein Höher mehr gab. Daher doch im ganzen letzten Jahr 1888 die fruchtlose Innenrotation um das beständig angekündigte "Werk der Werke", die eigentliche "Umwertung" – diese Klippe zu überwinden und eigentlich positiv zu werden, war objektiv und subjektiv auf diesem Wege gar nicht zu erreichen. Denn es fehlte an der Einbindung alles Seienden, und so gerannen Nietzsche seine letzten Schriften, in welche die eigentliche "Umwertung" auseinanderfloss, wiederum nur zu Angriffen auf dieses Seiende. Die "süßen Früchte jenes Herbstes": Götzendämmerung, Der Fall Wagner, Ecce homo, Der Antichrist, wofür zeugen sie? Sicherlich für eine selten erreichte Meisterschaft im Stil, im polemischen Stil – also im "Krieg machen", und dies ist ja auch die Absicht all dieser Schriften. Doch der Krieg ist eben nicht der Vater aller Dinge, sondern eine solche Revolution frisst ihre Kinder, wenn das Dasein in eine schroffe Entgegensetzung gespalten statt erhöhend zusammengebunden wird. Das Wesen der Existenz wird hier nicht schaffend erfasst und erfassend erst neu erschafft – und doch ist nur dies der Weg aller schöpferischen Erhöhung des Lebens als konzentriert-gerichtete und damit wahrhaft liebende Umfassung alles Seienden: Auf dieser Straße schafften ein Sokrates, ein Platon und schließlich ein Jesus neue Lebenswirklichkeit, die als solche vorher noch nicht in der Welt war. Wir Heutigen aber sind der Weg der Reflexion, welche die Bedingungen und Wirkungen jener Schöpfung aufdeckt – und damit zunächst einmal ihres inneren Gehaltes entleert ... Dieser einst so lebendige höchste Gedanke, der die Hochreligionen mit einer zweitausendjährigen und in der Verstandes- und Vernunftkategorie noch heute anhaltenden Kraft schuf, dieser Gedanke wird uns deshalb zu einem leeren Begriff, weil wir ihm mit der Kälte der Reflexion das Lebensblut austreiben: Wir führen fälschlicherweise diesen Gedanken auf Konditionierung und Funktionalität unserer Vernunft zurück, wo diese Vernunft doch nur die Schaffnerin von Bildern im Dienste eines anderen war: der Innerlichkeit des Menschen, der im Streben über sich hinaus (Transzendenz) in der Kultur den natürlichen Auftrag der Evolution annimmt.

Die beste Formulierung eines statischen Weltbilds auf rationaler Basis hat wohl Spinoza gegeben: "Unter Gott verstehe ich das absolute unendliche Sein, das heißt die Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, deren jegliches ewige und unendliche Wesenheit ausdrückt." (Ethik I,6.) "Gott" ist hier die allumfassende, ewige und sich immer gleichbleibende causa einschließlich aller "ewigen Attribute", und somit der statische Urgrund, aus welchem alle Modi des Daseienden fließen. Dem setzt Nietzsche sein "Gott ist tot" entgegen; damit meint er zwar zunächst den christlichen Gott, doch sein Angriff reicht weiter als die bloß vordergründige Polemik gegen das Christentum; auch noch die Auffassung eines Spinoza soll damit umgestoßen werden, jedes prästabilisierte und statische Gottesbild wird verworfen zugunsten eines dynamischen Gottesbegriffes: des "Übermenschen" (denn zuende gedacht enthält dieses Bild vom "Übermenschen" auch noch den "Über-Übermenschen" usf.). Nietzsche bekommt also jenen "Gott", den er als Schöpfer auf der Rückseite verwirft, auf der Vorderseite als Übermenschen wieder heraus. Ob man "Gott" hinten oder vorne ansetzt, dies gibt lediglich die unterschiedliche Denkweise an, welche zeit- und kategoriebedingt ist. Im ersteren Falle ist dieses Denken ein statisch-kausales, im zweiten ein dynamisch-teleologisches. Und: Alle, die "Gott" "hinten" haben, unter welchem Namen auch immer, gehen vom Ewigen aus, vom "Sein an sich", sehen die Daseinswirklichkeit als Emanation, als Ausfluss "Gottes". Wo "Gott" "vorne" angesetzt wird, argumentiert man mit dem "Werden", dem "Fortschritt" auf "Gott" hin.

Wenn also Nietzsche vor allem im Antichrist seinen Angriff gegen die frühen Christen und insbesondere Paulus richtet, so verwechselt er Ross und Reiter, er kennt das Leben selbst nicht, es fehlt ihm die Grundeinsicht in die Notwendigkeit und Funktion gerade auch des "Ressentiments", weil er einseitig und in kruder Weise auf die steigernde Kraft als Wille zur Macht (WzM) setzt. Alle seine Ausfälle gegen die Schwachen, die Viel-zu-Vielen, die "Hinterweltler", die Gleichheit, die Kranken, die Mitleidigen, insgesamt: die Dekadenz, fußen auf dem gleichen Fehler, auf einem subjektiven Entschluss, das Leben möglichst ungehemmt hinaufgetrieben sehen zu wollen: der "Übermensch" als das Ergebnis des "Willens zur Macht". Ohne Ein- und Rücksicht in die Kategorialität (und damit Unterschiedlichkeit) innerhalb der Menschheit nimmt er sich selbst, der er sicherlich der innovativen Seite zuzurechnen ist, nicht als pars, sondern pro toto; was er an sich selbst als "Innovativer" wahrnimmt, will er krude und gewaltsam auf das ganze Leben ausdehnen: die (auch bei sich selbst wahrgenommene) retardierende Dekadenz zurückzustoßen, um "auf einen Augenblick den Übermenschen zu erreichen."(5) Und dabei wird ihm in der geschilderten Verwechslung das Christentum zum Haupthindernis. Um nicht am Grunde des Lebens selbst die Möglichkeit der Dekadenz suchen und sehen zu müssen (welche doch als Fähigkeit zur Reduktion in der Evolution durchaus notwendig ist als Überlebensstrategie), braucht er dringend einen Verantwortlichen für dies unbestreitbare Phänomen innerhalb der "Gesamtpopulation" Menschheit: Paulus. Übrigens ist es diese Einseitigkeit des Willens zur Macht, die Nietzsche gar nicht erst zur Frage nach der eigentlichen Bedeutung dieser Nivellierung gelangen lässt. Diese Einseitigkeit scheint gegen Ende seines Lebens in ein Rasen gegen sich selbst zu münden, er zieht sich selbst den Boden unter den Füßen weg und verliert den Zusammenhang mit Leben und Realität. Gerade diese Seite seines Denkens ist gefährlich, da sie einseitigem Missbrauch Tür und Tor öffnet (indem sie dafür ein "ideelles" Gerüst liefert) und nicht in Übereinstimmung mit dem wirklichen Leben steht: Welches beide Kräfte in sich vereint, auf den wechselwirksamen Konsensus des Ganzen zielt. Die Überschusskraft des Lebens bleibt sich ihrer Herkunft stets bewusst und dient dem Leben als ganzem. Zwar wird denjenigen, der sich, weil Natur ihn so schuf, eher dem steigernden Ast zurechnen muss, auf seinem Wege zwangsläufig die Verachtung des Retardierenden (und damit auch des Konservativen, des Durchschnitts) ankommen; aber er sollte sich immer der Perspektivität, welche er zur Abhebung und Abgrenzung von eben jener retardierenden Menge braucht, bewusst bleiben, sie niemals zu seinem Grundsatz machen.

Aus diesem Grund muss Nietzsche am Ende der Metaphysik (im Wege der Selbstreflexion der Vernunft und der daraus resultierenden Heraufkunft des Nihilismus, die denn auch Nietzsche beredt schildert) Platon "auf den Kopf stellen": Wo das Schöne-Wahre im Wesen der Kunst entfallen ist, verschiebt sich zwangsläufig deren "eigentliche" Bedeutung auf das Künstlertum und den Schaffensprozess, durch welche das in Wirklichkeit noch völlig unbekannte und neuartige "Kunstwerk" erst hervorzubringen ist. Denn das ehemals Wahre ist für Nietzsche dahingefallen, und zwar nicht nur als ein Ehemals, als ein Überholtes, das durch ein anderes, "neueres" Wahres lediglich zu ersetzen wäre, sondern das Wahre schlechthin verliert seinen Wert: Weil erkannt wird, dass sich damit die Vernunft selbst als den eigentlichen Maßstab des Wahren ansetzt, ohne in Wirklichkeit dazu in der Lage zu sein. Vielmehr tritt für Nietzsche an die Stelle der Wahrheitsfunktion der Vernunft die Kunst – weshalb das Wesen dieser "Kunst" ebenso wie das des Kunstwerks völlig neu zu definieren war. "Wahr" ist nunmehr nicht die Wahrheit als metaphysisches Anwesen des Wahren (= "Gott"), zu welcher die Vernunft des Menschen in Kontakt zu treten vermag, sondern wahr ist allein eine solche Künstlerschaft, die im Prozess des Werdens das Neue schafft. Die wahre Welt und die Welt des Scheins: aus welcher Erkenntnis der Doppeltheit sich das rezipierende Denken der Vernunft auswickelt (im griechischen Denken ebenso wie etwa bei Buddha) – diese Scheidung des Erfahrens von Welt, die aus dem Unterschied zwischen der Sinnlichkeit des Verstandes und dem rezipierenden Vergleichen der Vernunft folgt, wird bei Nietzsche zugunsten der Sinnlichkeit des Immanenten aufgehoben: Mit der wahren Welt entfällt zwangsläufig auch noch die scheinbare Welt; denn die Scheinnatur wurde der vordergründig-sinnlichen Welt erst von dieser Perspektive der "wahren Welt" der Vernunft aufgedrückt. Wo diese letztere Perspektive als fehlerhafte Eigenmacht der Vernunft erkannt wird, verbleibt allein die sinnliche Welt als das Wahre. Damit schließt sich der Kreis der Metaphysik als das Durchlaufen der Rezeption und Reflexion der Vernunft, welche sich zuletzt selbst mit sich selbst verwirft (was schon bei Schopenhauer anklang) und beim Ausgangspunkt des Sinnlichen endet, sich selbst als Vernunftperspektive lediglich nurmehr negativ dabei hat: Selbst dies Ausschlaggebend-Wahre weder zu sein noch ermitteln zu können – und so meint Nietzsche, hinter diese Vernunft zurück gehen zu müssen. Für ihn ist die Ansetzung des "wahren Wesens" "hinter" den Dingen das Festmachen einer Perspektive von Welt, welche die notwendige Steigerung des Lebens behindert; diese Steigerung aber sei die eigentliche Aufgabe der Kunst. Maßstab und Weg dieser "Kunst" sollen sich aus dem Instinkt und dem Sinnlichen erheben, wobei er diese grundverschiedenen Kategorien nicht zu scheiden weiß, sondern mystifizierend durcheinandermengt. Es liegt auf der Hand, dass dies ein ganz anderer Kunstbegriff ist als derjenige Platons, der die Kunst in techne und to kalon scheidet. Das Recht, hier überhaupt noch von Kunst zu reden, erschleicht sich Nietzsche quasi, und zwar von daher, was bislang noch alle Kunstästhetiker von ihr forderten, und dies eben seit Platons Zeiten: Dass Kunst den Eros in anregender (= steigernder) Weise aufzureizen habe – diese angenommene innere Funktion der Kunst ist aber auch schon das einzig Verbindende; das Wesen der Kunst und deren "Mittel" werden völlig verschieden gedacht. Aber selbst dieses "Letzteigentliche" der Kunst, diese "anregende innere Funktion" muss bestritten werden: Kunst als Kunst ist dazu zu kurz, sie leiht sich die Flamme des Eros vielmehr von der Innerlichkeit des Menschen her, deren eigentliches Brennen, das einst im Religiösen beheimatet war, weder im Ethischen noch im Ideellen gefunden werden kann. In anderen Worten: Das Steigernde in der Kunst ist dort vorhanden, wo Innerlichkeit und Vernunft existentiell ganz oder teilvernetzt sind; dann vermag Kunst zu bewegen – aber an dieser Stelle stehen wir heute jedenfalls phylogenetisch nicht mehr. Geht Platon in der Rezeption der Vernunft weg vom sinnlichen Leben hin ins metaphysische "Sein" der Ideen, so will Nietzsche zurück in die Verstandeskategorie des bewussten Scheinens – in der Annahme, so "näher" am "wahren" Leben zu sein. Ob das aber auch wahr ist? Und: Wann hätte die Kunst je eine solche Aufgabe gehabt, wie sie ihr damit zugeschrieben wird: die Menschheit vor dem Pessimismus zu retten, sie durch Verböserung zu verlebendigen?! War doch Kunst bislang niemals Ursache, sondern Folge; und sie war bislang niemals selbst Herrin, sondern immer im Dienste eines Anderen, etwa der Macht bzw. der Religion. Kunst war mithin bisher immer ein Anzeichen dafür, dass durch das Ergreifen von Welt ein Zuwachs erreicht war – Kunst setzt das Bewusstsein von Fülle voraus, aber sie schafft es nicht! Bei Nietzsche aber soll die Kunst an die Stelle des "toten Gottes" treten als die höchste Erscheinung des WzM, durch deren Schein die Aufstachelung der Menschheit hin zum "Übermenschen" bewirkt werden soll. Nietzsche fragt nicht danach, wie denn das Wesen einer solchen "Kunst" überhaupt gedacht werden könnte, bzw. wie derartige "Kunstwerke" beschaffen sein müssten, welche eine solche Wirkung auszuüben vermöchten. Denn eines ist doch sicher: Der herkömmliche Kunst- und Werkbegriff ist damit gesprengt. Und so versteckt sich hinter diesem "neuen Kunstbegriff" in Wirklichkeit etwas anderes – Nietzsche ist damit auf dem Weg zurück, zurück zum Kult, zurück zum Dionysos-Kult (aus dem doch bei den Griechen die Kunst einst ausfloss!). Diese "Kunst" muss, wenn sie den "toten Gott", mithin die Religion ersetzen soll, selbst Religion werden. Der "tote Gott" wird als ein moralischer angesetzt, sodass es sich hierbei "nur" um einen Perspektivwechsel zwischen Verstandes- und Vernunftkategorie handelt, wobei das Abstrakte der Vernunft zugunsten der "Lebenswirklichkeit" des Sinnlichen verworfen wird – anstatt darauf aufmerksam zu sein, dass die Moral sich den Anschein des Religiösen nur erschlichen hat, dass das eigentliche Faktum aber der "Tod" des heiligen Gottes ist! Es ist dieser Kunst- und Missgriff, welcher die vermeintliche Ersetzung von Moral durch Kunst erst ermöglicht. Denn freilich erlaubt der Schein des Sinnlichen eine buntere Welt als die tatsächliche Leere einer "vernünftigen" Moralität – aber darum geht es überhaupt nicht: Der eigentliche "Verlust der Mitte" ist das Abschneiden der Verbindung zum Heiligen. Es fehlt die Einsicht, dass und wie Religion, Moral und Kunst innerhalb einer Kategorie, hier der Vernunft, zusammenhängen und zusammengehören, sich aus ein und derselben Wurzel entwickeln, eben aus einer Kategoriesteigerung gegenüber einem vorherliegenden Vernetzungsbestand. Dann kann es aber nicht angehen, Religion und Moral als Irrtümer über Bord zu werfen, um die Kunst als das allein Seligmachende beizubehalten. Und das geschieht bei Nietzsche in Wirklichkeit auch gar nicht, ohne dass er sich dies selbst und uns allerdings klarmacht: Denn "seine" Kunst, die im Entschluss zum existentiellen Schein als WzM das "Neue Wahre" schaffen soll, ist gar nicht mehr Kunst im hergebrachten Sinn, und insoweit gehört auch schon und noch Nietzsche zu jenen, die in Wirklichkeit den zweitausend Jahre lang gültigen Kunstbegriff umstürzen. Dieser zielte unter Vereinigung von Regeln (techne) und dem "Schönen" (to kalon – einem reflektierend ermittelten und zusammengesetzten Ästhetischen) auf eine "höhere" = ideelle "Wahrheit" = Harmonie mit und im Sein. All dies Hergebrachte im Auswickeln und Ausdifferenzieren der Vernunft wird von Nietzsche verworfen, der Kunstbegriff wird im Rückgriff auf das "Biologische" entgeistet. Genau hingesehen wird vielmehr das Leben selbst mit der Kunst gleichgesetzt, dies aber nicht einmal in all seinen Erscheinungsformen, sondern unter Ausschluss ausgerechnet derjenigen Entwicklungsstufe (Vernunft), welcher sich die eigentliche Kunst verdankt. Kunst als Schaffen wird identifiziert damit, was hier als Innerlichkeit bezeichnet wird – dies aber in einer Rückwendung auf den Instinkt und das Sinnlich-Rauschhafte, vermittels welcher "das Leben", sich inkarnierend als WzM, das "Wahre" als "schönen Schein" schaffen soll. Auch hier lässt sich wieder das Schließen des Kreises der Metaphysik beobachten, bezogen auf die Kunst: Am Ende ihrer eigenen Auswicklung verwirft sich die Kunst mit sich selbst, wobei natürlich zugrundeliegt, dass sich dabei die Vernunft mit sich selbst verwirft, ohne diesen Selbstwiderspruch zu sehen: Die Vernunft und damit auch die Kunst dieser Kategorie sind am Ende des für sie durchschreitbaren Kreises angelangt, sie sind des (Reflexions-)Treibens müde, und so wenden sie sich mit Nietzsche auf ihren eigenen Ursprung zurück: das Sinnliche, das Rauschhafte, das Instinktive.

Wenn auch diese Rückwendung unsinnig, ja verzweifelt ist (das ist letztlich auch das eigentliche Pathos Nietzsches: eine verzweifelte Innerlichkeit), so war dieser Angriff und Umsturz auch noch des Kunstbegriffes dennoch notwendig; denn in der Kunst wurde seit der Aufklärung, in der Romantik bis hin zur Mystifikation durch Schopenhauer der letzte Rückzugswinkel der Innerlichkeit innerhalb der Vernunft gesucht und gefunden. Die Kunst war der letzte Halt für eine Vernunft, die sich selbst mit der Innerlichkeit identifizierte, nachdem Religion und Moral (vermeintlich) als menschengemacht diffamiert und entleert waren. Mit dem Verlust dieses letzten Haltes stand sich die Vernunft selbst nackt gegenüber, sie (und zwar doch wieder sie) brauchte neue Kleider. Nietzsche als Kind des 19. Jahrhunderts hält zwar noch am Begriff "Kunst" fest, aber was er damit meint, ist bereits etwas ganz anderes: Diese neue und andere "Kunst" soll es sein, welche eine neue Moral und eine neue Religion gebären soll. Er sucht unter dem Namen Kunst nach einem neuen Anfang, weil er verzweifelt an sich selbst wie an seiner Zeit wahrnimmt, dass am Menschen "etwas" fehlt: die lebendige Verbindung zur eigenen Innerlichkeit, welche unter den alten Begriffen von Religion, Moral und Kunst nicht mehr herzustellen ist. Dies Festhalten am Begriff Kunst "verdankt" Nietzsche seiner falschen Auffassung der Griechen, in deren Art von Weltergreifen er noch eine "ursprüngliche Kunst" vermutet – ohne erstens zu sehen, dass auch noch sein eigenes Denken gerade von dieser Art bedingt ist als in einem Kreisbogen sich bewegend; vor allem aber im Verkennen der Tatsache, dass die Kunst bei den Griechen ebensowenig ursprünglich im Sinne von kausal-bedingend ist wie irgendwo: Kunst ist immer eine Folgeerscheinung, Ausfluss eines neuen Könnens, das sich wiederum aus einem Anderen herschreibt; nämlich aus einer Kategoriesteigerung, die ein neues Bewusstsein von Welt in die Menschen bringt und damit dem Gestaltungswillen des Menschen eine andere Qualität verleiht. Dieser veränderte Gestaltungswille lässt sich aber eben auch bei den Griechen nicht nur auf die und als Kunst reduzieren, sondern geradeso wie in Philosophie, Religion und Moral, so verwandelt sich auch im Kunstschaffen die Qualität – und bei allen dreien als Folge dieses Kategoriewechsels. Aus diesem Grund ist es Nietzsche unmöglich, eine Definition "seiner" Kunst zu geben, denn dazu müsste der kategorielle Perspektivwechsel bereits eingetreten sein, auf dessen Suche Nietzsche aber erst noch ist, und dies in der falschen Richtung. Seine Forderung an die Kunst nach dem "Schaffen" im Sinne einer real-existentiellen Erhöhung des Seienden geht an die falsche Adresse; auch ist er selbst eben nicht jener "Übermensch", der diese neue Perspektive einzulösen vermöchte – und darum hat er auch keine Ahnung davon, wie eine solche "Zukunftskunst" aussehen soll, außer jener bloß negativen, dass sie alles, was bisher Kunst hieß, nicht sein könne. Seine "funktionale" Konkretisierung der Kunst aber: dass diese "Kunst" die Verböserung des Menschen und den dionysischen Rausch voraussetzt, all dies sei ihm geschenkt: Nichts, was bislang Kunst hieß, hat damit zu tun, warum dann zukünftig? In Wirklichkeit redet Nietzsche eben gar nicht über die Kunst, vielmehr bringt er die Natur und das Leben selbst unter die Perspektive des Künstlers als des Schaffenden – nimmt aber dabei, was doch bloß ein Bild sein kann, als die Sache selbst. Dies hat am Grunde trotz aller Verachtung der Vernunft und deren vorgeblicher Wahrheitsfeststellungsmethoden ein Festhalten eben dieser Vernunft an sich selbst: Denn auch noch die idealisierend-überhöhende Kunst seit den Griechen ist ein "Produkt" dieser Kategoriesteigerung hin zu dieser Vernunft: Sie lässt sich zwar vordergründig mit sich selbst fahren, und sie entkleidet die Kunst alles ehemaligen Inhalts wie jeder Form; aber indem die Vernunft diese "Zukunftskunst" auf das blanke "Höher" in Form des Scheins reduziert, welcher sich durch Existenz in Wahrheit verwandeln soll, so gehört sowohl dies "Höher" noch ihrer eigenen Erkenntnisweise an, wie es andrerseits immer noch diese Vernunft selbst ist, die hier redet und erkennt: und welche dem Auswickeln des Seins ins Seiende meint vorgreifen zu können! Neben jener unsinnigen Rückwendung ins Rauschhafte und in die Verböserung stößt dies am meisten an Nietzsche ab: Dass es immer noch seine Vernunft ist, die hier in Eigenstolz auf sich selbst steht, der jede Demut abgeht: Denn dieser Künstler, welcher den neuen Schein schafft, der sich in die neue Wahrheit verwandeln soll, jener schaffende Künstler wäre er nur gar zu gerne selbst! Und diese Sicht von Kunst erlaubt es ihm, sich über seinen lebenslangen Stachel im Fleische, Richard Wagner, endlich zu erheben. Denn dies wäre die höchste Form des Schaffens: nicht "nur" ein Werk, sei dies auch gar das "Gesamtkunstwerk", hervorzubringen, sondern das Leben selbst umzuschaffen! Welch ein Größenwahn ...

Bei dieser kruden Optik hängen das Übersehen des Heiligen und die Verböserung eng zusammen; denn bedeutet das Heilige vor allem auch eine Einung, und zwar sowohl mit dem "numinosen Objekt" (= "Gott") als auch innerhalb des und mit allem Seienden, so ist das Wesen der Verböserung die Entgegensetzung – das Leben wird hier, und dies wiederum mittels der Vernunft, in "richtig" und "falsch" gespalten, wobei jene Verböserung dazu dienen soll, das angeblich Falsche gerade auch mit roher Gewalt auszuscheiden. Damit aber unterschiebt Nietzsche "dem Leben" seine Sicht, wie er wünscht, dass "das Leben" zu sein habe, und erkennt gerade nicht, wie Leben wirklich agiert. Denn es stößt keinesfalls die "Schwachen" in den Abgrund, wie es Nietzsches empörende Un-Ethik fordert. Wenn der Mensch dem Menschen Böses antut, so ist dies nicht "das Leben", sondern das "homo hominis lupus", wo der Mensch seinen Geist im Dienst unterer Kategorien und damit gegen das Leben einsetzt. Das Leben selbst geht hier ganz andere Wege, es schafft beständig Neues auf einer zu erhaltenden Basis, nichts Altes muss untergehen, sondern es erzeugt sich immer wieder ein labiles Gleichgewicht alles Geschaffenen, soweit dafür Raum vorhanden ist. Lediglich untauglich gewordene Nischenexistenzen, die nicht direkt zum großen Stammbaum des Lebens (und in dessen Beziehungsketten) gehören, mögen verdrängt werden – aber dies ist ein "unschuldiges" Absterben von Überholtem, dessen Platz durch ein Neues eingenommen wird: ein synergischer Effekt des Gesamtorganismus Erde, nicht aber das Sich-Herausnehmen einer Art gegenüber einer anderen. So verhält sich erst der Mensch mittels seiner Ratio, und hier befindet er sich (noch immer) oft in einem Gegensatz zum Leben – vor allem immer dann, wenn er diese Ratio zu unterkategoriellen Zwecken benutzt. Leben "heiligt" sich in seiner Steigerung selbst, indem die Phylogenesespitze zu immer weiterer Belebung und Beziehung vorschreitet bis hin zum Bewusstsein des Menschen, der dies Drängende mit eben diesem Bewusstsein zu erkennen vermag – oder aber wie Nietzsche wegsehen und sich umdrehen kann, um als verböserter lupus alten Kategorien zu dienen. In dieser umschaffenden Verböserung dann aber auch noch ausgerechnet die "Zukunftskunst" zu finden, ist geradezu hanebüchen: Entstand diese schöpferisch-erhöhende Betätigung, welche wir als Kunst bezeichnen, doch niemals aus einer Verrohung des Menschen, sondern immer als Vorspiel bzw. Nachspiel des Heiligen: mit und als dessen Rezeption und Reflexion in der jeweiligen Kategorie – Kunst war und ist niemals Vergröberung, sondern im Gegenteil Verfeinerung.

Zwar hätte es das Leben, mithin Mutter Natur, gar nicht nötig, hierin verteidigt zu werden; aber Nietzsche unterstellt ihr mit dem Stoßen eine "Verhaltensweise", welche in Wirklichkeit auf einer falschen Bewertung von angeblich objektiven Beobachtungen beruht. Zwar: Wir sehen den Untergang von Arten (auch ohne menschlichen Eingriff), wir sehen die Konkurrenz der Arten und die Fressketten innerhalb derselben, wir sehen das Wesen der Selektion – aber weder mit der Bezugskette "Fressen" noch mit der selektiven Steigerung des Lebendigen kann in die Natur eine Art "Wille" hineininterpretiert werden, Schwächeres dem Stärkeren aufzuopfern, und dies auch noch "mit Lust"! Vielmehr drängt Natur immer auf ein labiles Gleichgewicht, und das Stärkste hat das Schwächste als Basis immer nötig. Natur ist niemals ausgrenzende Entgegensetzung, sondern ein synergisches Flechten von Beziehungen, in welchem Geflecht alles gleich notwendig ist. Das Verdrängen von Arten gehört dann aber ebenso notwendig zum Schaffen, wie andererseits die jeweiligen Fressketten (innerhalb derer wir auch noch selbst als Nutznießer stehen) nichts anderes sind als rezipierende Bezugsketten innerhalb des Lebendigen. Nun möchte einer vielleicht einwenden, wie es sich dann mit den großen Lebensvernichtungen durch die Natur selbst verhalte, etwa dem Saurier-Sterben und ähnlichen Katastrophen? Zwar sind diese Vorgänge bis heute in Ursächlichkeit und Ablauf nicht verstanden, aber soviel lässt sich doch sagen: Solchen globalen Ereignissen liegt immer eine Veränderung in der Synergik des Gesamtorganismus Sonnensystem zugrunde, zu dem sich unsere Erde und die auf ihr herrschenden Bedingungen als ein Teilsystem in Abhängigkeit befinden. Und auch noch in diesem Gesamtsystem herrscht geradeso wie im Leben selbst ein labiles und empfindliches Gleichgewicht. Dieses kann sowohl durch auf der Erde "hausgemachte" Störungen bzw. sich verändernde stellare Konstellationen aus der Bahn geworfen werden und so von der anorganischen Basis her – mithin der noch weit älteren Beziehungsstruktur des Seienden her als es das Lebende ist – auf dieses Leben in verheerender Weise eingewirkt werden. Diese Unaufhebbarkeit der Abhängigkeit von der anorganischen Basis etwa moralisch zu nehmen oder einem Gott zuzurechnen bzw. daraus einen Willen der Natur zum Stoßen herauszulesen, geht noch weniger an als innerhalb der Organik, insofern wir hier noch einen Schritt weiter zurück in den Wirkungsbeziehungen des Seienden uns befinden; welche Beziehungen aber, je weiter sie kategoriell voneinander entfernt sind, umso weniger parallelisiert werden dürfen, als sie in ihrer steigernden Entwicklung ihre Qualität verändern.

Dass Nietzsche einer solchen Un-Ethik zwar nur im Werk frönt, und dies in der Hauptsache im Blick auf den "Übermenschen", also einen entfernten "Typus" – allerdings empfiehlt er diese Verböserung eben gerade auch für den jetzt lebenden Menschen als Weg zum "Übermenschen"! – , dies ehrt ihn einerseits, insofern diese Haltung nicht in seine eigene Realexistenz eingeht. Aber dies ist doch gleichzeitig eine sehr bedenkliche Lücke: wie kann im Werk, und sei es auch von erst zukünftigen Mitmenschen, etwas gefordert werden, was man in der eigenen Realexistenz weder leisten will noch kann? Hätte er nicht vielmehr seine eigene Moralität (und noch mehr deren ihm selbst oft unbewusste Konditionierung) bedenklich finden müssen, anstatt sein sehr moralbewusstes Verhalten auch noch hervorzuheben?

Das wirkliche "Schwergewicht" des Lebens ist von ganz anderer Art als jenes, das Nietzsche in seiner "Ewigen Wiederkunft des Gleichen" (EwdGl) ersinnt; denn es verbindet das innere Wirken alles Seienden vom Untersten her bis zu uns hinauf, wie wir selbst dies treibende Agens in uns wahrzunehmen vermögen. Wohingegen jene Überlegung, zu der uns Nietzsche überreden möchte, bloß erklügelt ist: dass bei endlicher Kraft und unendlicher Zeit alles Seiende sowohl schon einmal in gleicher Weise dagewesen sei wie in gleicher Weise wiederkehren werde. Die darin enthaltene Zwangsläufigkeit des Seienden im Sein (u.a. auch eine Art Prädestination) stößt jede freie Vernunft ab. Weder wurde bislang das "Heilige" im Wege des Erklügelns gefunden (das größte Schwergewicht, welches nach Nietzsche die EWdGl sein soll, ist identisch mit dem "Heiligen" als dem Bezug über sich selbst hinaus), noch stand bislang das "größte Schwergewicht" in einem derart abstoßenden Verhältnis zur Denkart der Menschen: Es musste sich mit der jeweiligen Kategorie vereinbaren lassen – oder es fiel als Irrlehre hinweg. Denn die jeweilige Erhöhung einer Kategorie ist es, die eine neue Sicht der Transzendenz bedingt (nicht jedoch hervorbringt!), und so kann es zwischen dem "Heiligen" und der Ratiokategorie (zunächst) keinen Widerspruch geben. Und: Noch nie hatte es das größte Schwergewicht nötig, sich beweisen zu lassen – wie Nietzsche tut; der Beweis mittels Ratio (s.a. die Gottesbeweise und deren Widerlegung von Augustin bis Kant) war schon immer ein Argument dagegen.

Nietzsche beachet nicht, was der "letzte" jetzige Mensch denn eigentlich sei, mithin: was Geist ist. Ihn interessiert vielmehr nur, was der "neue Mensch" werden solle – wieder aber, ohne hinzusehen, was auch noch im Hinblick auf diesen "Übermenschen" Geist sein muss – und dass gerade dieser Geist auch noch die Basis des "neuen Menschen" sein und bleiben muss. So gesehen ist auch noch Nietzsche "moralisch" (= wertend), nur dass er eine Unmoral als Moral will, aber dies ist immer noch Moral als apriorische Wertesetzung. Denn seine "Liebe" schöpft aus dem "Reichtum" der Triebe, stellt damit gegen die herrschende Ordnung eine andere. Er will sein Chaos weiter "unten" festmachen, wo das Leben als Schaffendes schon längst nach oben darüberhinaus geschritten ist – um hier einmal Hegeln zu zitieren: Was wird, ist (auch) vernünftig (nämlich dadurch, dass es wird, und dass eben nichts anderes wurde), und Nietzsche ist unvernünftig: Er sieht nur, dass der Mensch als Seiendes, wie er ihn sieht, "herzlich schlecht" ist – und darum spaltet er den Begriff "Geist" in kruder Weise auf: Die Vernunft (Geist = Ratio) müsse sowohl von sich selbst wie auch von falschen Wertsetzungen (= Ende der Metaphysik) erlöst werden, an führende Stelle gehöre das "heilige" Spiel (= dionysische "Kunst") der Triebe (Instinkt = "Geist").

Wie kann man Nietzsches Hauptaussagen: EWdGl, WzM und Übermensch in ein Bild zusammenzufassen? Der Übermensch ist das Ziel, auf welches der WzM im "letzten Menschen" hinarbeitet, diesen Übermenschen muss jener letzte Mensch im Augenblick der EWdGl wollen, indem er diesen Gedanken der EWdGl existentiell denkt, d.h., dass er ihn annimmt und von da aus seine Existenz durch diesen "Augenblick des Ewigen" bestimmen lässt: Jeder Augenblick derselben ausgerichtet auf diese EWdGl und deren Ziel im Übermenschen, welche Existenz aus dieser Gerichtetheit ihren eigenen Untergang will. Der WzM und die EWdGl werden insoweit identisch bzw. auswechselbar, als das aktive Ziel der EWdGl dieser WzM als Erhöhung des Lebens ist, wie ebenso der WzM jene EWdGl gerade darin bejaht, dass das Seiende sich selbst verneint um der Erhöhung des Seienden willen, weil dies im Ring des Seins ewig wiederkehrt – diese Ewigkeit kann sich im WzM nur als erhöhender Kreis selbst wollen. Mit dieser Auffassung ist Nietzsche zwar schon positiv objektiviert – er selbst pflegt sich gemeinhin konkreter, positivistischer und härter auszudrücken, grausam gegen das Seiende; das aber sind ja doch auch lebende Menschen, die im Namen des Übermenschen "abgeschafft" werden sollen, wozu man jene durchaus auch noch aktiv stoßen solle – für Zarathustra ist dies zwar eine schwer zu schluckende Kröte, jedoch, er schluckt sie ... Trotz dieser wohlmeinenden Analogisierung müssen wir aber doch fragen: Ist diese Sicht auch wahr? Die Interpretation des Seins im Ganzen als WzM im Verbund mit dessen EWdGl? Und: Wie denkt sich Nietzsche eigentlich den Übermenschen, diese angeblich nächste Verkörperung des WzM im Seienden? Was können wir aus aller bisherigen Erfahrung über das Wesen des Seienden dazu als Erwartung hegen? Dieser "Übermensch" ist natürlich für uns als "letzte Menschen" das nächstliegende, weil wir selbst es sein sollen, die auf jenen als das nächste Ziel und unseren eigenen Untergang hinzuarbeiten hätten: Diese Überwindung unserer selbst sei unsere existentielle Aufgabe, unterstützt vom Gedanken der EWdGl als Schwergewicht und in der Erkenntnis, dass das Sein im Ganzen WzM sei. Wenn wir alle Hervorbringungen des Seienden anschauen, dann wissen wir aber, dass

a) die Innovation über die vorherige Spezies hinaus zwar individuell beginnt, dass aber aus einer Innovation (wenn sie denn eine solche ist: d.h., dass mit ihr die Hervorbringung einer neuen Spezies geschieht) notwendig eine Population hervorgehen muss, die in sich ein ähnliches, wenn nicht sogar ein höheres Gefälle einschließt, wie wir dies auch schon bei uns, den "letzten Menschen" beobachten können. Der "Übermensch" würde also in sich als Art geradeso und zumindest in fünffacher Weise (kategoriell) unterteilt sein wie der Mensch, weil auch er noch den gleichen natürlichen Anlagen und deren unterschiedlicher Ausdifferenzierung in den Individuen unterliegen müsste. Denn ebenso, wie der Mensch nicht ohne den "Unterbau" der Primaten als seiner Ahnen wie ohne die Grundlage des gesamten Lebensstammbaumes gedacht und verstanden werden kann, geradeso wäre der Mensch in der Form des "letzten Menschen" jene direkte Ausgangsstruktur des Neuen, aus welcher sich mittels (cerebraler!) Innovation der Übermensch erheben soll.

b) diese Veränderungen durch und in Richtung auf Höherentwicklung nichts mehr mit dem Phänotyp zu tun haben werden, sondern auf den Grad der Bewusstheit zielen bei gleichzeitiger Beibehaltung des Phänotyps. Phänotypisch würden mithin wir "letzten Menschen" den Typus des Übermenschen gar nicht erkennen können, sondern ihn für einen der Unseren halten! Der beste Beweis für diese zunächst unbewiesene Behauptung ist der Mensch in der Form des homo sapiens sapiens selbst: welcher sich trotz seiner eigenen Innovationen (vor allem von der Verstandes- zur Vernunftkategorie) phänotypisch nicht verändert hat.

Nietzsches Übermensch würde daher, um ihn mit hier folgenden Gedankengängen zusammenzubringen, zuletzt einer Teilpopulation des Menschen entsprechen, in welcher eine weitere Kategorie neuronal und existentiell verwirklicht würde. Wenn Nietzsche meint, dass ebendadurch der "letzte Mensch" notwendig untergehen müsse, so irrt er in der Vorgehensweise des Lebens selbst: Ebensowenig, wie die Innovation hin zur Vernunft das ständige Hervorbringen des Verstandestypes innerhalb der Population des Menschen verhindert, vielmehr letztere Kategorie in schöner Regelmäßigkeit vorhanden ist und sogar überwiegt; ebenso ist und bleibt der "letzte Mensch" in der Form der Ausdifferenzierung der Vernunft die Basis des Übermenschen. Diese Sicht erscheint insofern zwingend, als wir, wenn wir denn schon über eine Höherentwicklung Aussagen machen wollen (und dafür steht doch der Übermensch), uns innerhalb derjenigen Vorgehensweise der Natur (und Kultur) halten müssen, wie wir diese als bis zu uns hin führend vorfinden, welche Vorgehensweise uns bedingte und welche wir zuletzt mitbedingen. Oder wir werfen unseren (angeblichen) "Ausblick" derart weit in die "Zukunft", dass in Wirklichkeit unter dem Begriff Übermensch nichts mehr verstanden werden kann, sondern er entweder für einen mystischen oder mythischen Bezug steht. Mystisch wird eine solche Ausdeutung des Begriffes Übermensch eher dann sein, wenn damit in Wirklichkeit gar nichts Konkretes gesagt sein soll, wenn auf ein für uns "letzte Menschen" eigentlich Undenkbares gewiesen werden soll. Dann wird aber lediglich ein Begriffstausch vorgenommen, mit dem das im Dunkeln liegende Offene, jene Leerstelle verdeckt werden soll, welche früher mit "Gott" besetzt war, und wodurch der Gottesbegriff "dynamisiert" wird. Eher mythisch ist der Begriff dann besetzt, wenn unter ihm ein "großes Zurück" in eine angeblich "natürliche Gesundheit" verstanden wird, etwa das dionysische Chaos: Dahinter verbirgt sich nur der Überdruss der Reflexion an sich selbst, welche sich mit sich selbst von sich selbst zwanghaft loszureißen sucht, um den Menschen in einem Ehemals angeblich "neu" auf ein Anderes zu gründen. Nietzsches Ausdeutung des Übermenschen springt zwischen beiden Möglichkeiten des Mythos und des Mystischen hin und her, und zwar je nachdem, ob er von Seiten seiner Ratio bzw. seiner Existentialität her argumentiert.

Das Sein im Ganzen und die EWdGl

Das Wesen des Seins im Ganzen muss für alles Seiende Ausgangspunkt sein, ebenso wie alles bisher erschienene Wesen des Seienden sich im Sein wiederfinden können muss; damit ist aber gesagt, dass das Sein des Ganzen unabgeschlossen (weil nicht vollständig entfaltet) und jede Aussage über das Sein im Ganzen vorläufig, hypothetisch ist, weil dessen Wesen nach einer weiterer Entfaltung (etwa durch jenen "Übermenschen") erst neu bestimmt werden muss und kann. So gesehen ist die Bestimmung des Wesens des Seins im Ganzen als WzM in EWdGl eine Voreiligkeit des "letzten Menschen" Nietzsche. Und dies auch noch verbunden mit einer fehlerhaften Auffassung des Wesens des Seienden, durch welches doch das Wesen des Seins im Ganzen mitbedingt wird. Denn indem bei Nietzsche die Art und Weise des Seienden, wie allein es sich zu steigern vermag, nicht mitgedacht wird, sondern einzig die Forderung nach einem Höher im Wege einer "neuen Kunst" auf der Basis des dionysischen Triebspieles erhoben wird, löst er sich von den beobachtbaren Lebenstatsachen und gerät in ein mythisch-mystisches Abseits. Vielmehr gehört die tatsächliche Art und Weise der Steigerung des Seienden unlösbar zum Wesen des Seienden (und damit ebenso zum Wesen des Seins im Ganzen), denn sie ist der Weg des Seienden vom Tieferen zum Höheren. Dieser Weg seiner Entfaltung kann jedoch nicht nur im existentiellen Entschluss der Annahme der EWdGl gefunden werden, sondern er braucht notwendig auch eine leibliche Basis: Nietzsche gibt in der EWdGl "nur" den spirituellen Akt des Umschlagens im Individuum – welcher Akt sicherlich für das Individuum jedenfalls das größere Problem ist. Er gibt aber keinerlei gegründete Vorstellung über das Wesen des Seienden und dessen Art und Weise, wie dieses Seiende in seinem funktionalen Sosein überhaupt erst in die Lage versetzt werden kann, sich vor diesem Sprung zu sehen. Es genügt aber nicht, nur die Aufgabe zu sehen, den Nihilismus zu überwinden; vielmehr muss man, wie auch Nietzsche weiß, dazu erst existentiell durch jenen hindurchgegangen sein. Die Voraussetzungen dafür aber, neuronale Entwicklung und existentielle Reflexion, deren Wesen und Funktion, gibt Nietzsche nirgends – wenn er auch ein Bewusstsein davon hat, dass ihm hier etwas fehlt: Nicht umsonst wollte er erst noch zehn Jahre Naturwissenschaften studieren. Für das Wesen des Übermenschen kommt es auf dessen gedachte Distanz zum "letzten" = heutigen Menschen an: Zarathustra/Nietzsche als Lehrer der EWdGl segnet seinen Untergang (und nicht nur seinen ...) in dem Bewusstsein, dass er selbst noch ein Übergang, mithin dieser Übermensch nicht sei. Das Verhältnis von Mensch zu Übermensch wird vielmehr bestimmt wie das Verhältnis des Affen zum Menschen – ein Gelächter soll der Mensch dem Übermenschen sein. Aus einer derartigen Distanz wird das Wesen des Übermenschen für den "letzten Menschen" Nietzsche ebenso wie für den "Übergang" Zarathustra unsichtbar: Wie der Affe das Wesen des Menschen nicht verstehen kann, so auch nicht der Mensch im Hinblick auf den Übermenschen. Die Kluft von einer Spezies zur nächsthöheren ist nicht die kleinste, sondern als unüberbrückbare die weitest denkbare. Auch wird in einer solchen Distanz jener Satz: "auf eine Sekunde den Übermenschen erreichen" doch gänzlich falsch, ist eine ähnliche Verwechslung, als wenn der Affe den Neandertaler für seinesgleichen hielte. Und Nietzsche meint hier in Wirklichkeit auch etwas ganz anderes: den Augenblick des Denkens der EWdGl! Denn sieht man auf seine Existenz als ein Gesamt von Leben und Schaffen, so war diese durchaus nicht geprägt von einem durchdringenden Sprung, vielmehr stand auch er noch in der bloßen Möglichkeit, dass dieser Gedanke für wahr gehalten werden können müsse – und dieses Erleben des annehmenden Augenblicks der EWdGl ist Nietzsches "heiliger Moment", dessen späte und der Vernunft unausrechenbare Folge erst der Übermensch sein soll.

Wenn die Distanz zwischen Mensch und Übermensch wie im Verhältnis zwischen Affe und Mensch gesetzt wird, dann folgt daraus zwangsläufig, dass sich durch dieses Hervortreten des Übermenschen das Wesen des Seins im Ganzen in doppelter Weise verwandelt: Das Sein im Ganzen wie dessen Wesen wird ein anderes, als nunmehr in ihm etwas Neues, insbesondere qualitativ völlig Neuartiges ist, weshalb Wert und Wesen des Seins im Ganzen von dieser neuen Höhe her bestimmt werden müssen – ebenso, wie der Mensch das Wesen, den "Sinn" des Seins im Ganzen in einem Anderen findet als etwa der Affe. Dies gilt insbesondere für den von Nietzsche dem Sein im Ganzen untergeschobenen WzM als dionysisch-triebhaftes Chaos: Die Qualität dieses WzM muss sich doch ebenso himmelweit von der des Menschen unterscheiden wie zwischen Affe und Mensch. Es kann dann keinesfalls das Sein im Ganzen und dessen Wesen von dieser überholten "Altart" Mensch her gesehen oder gar bestimmt werden – gerade dies jedoch möchte Nietzsche leisten mit dem WzM in der EWdGl! Damit erlaubt er sich aber einen ebenso lächerlichen Vor- und Übergriff, als wenn der Affe uns vorschreiben möchte, worin wir den Sinn der Welt zu erblicken hätten. Nietzsches Existentialität verwechselt und vermischt auch hier die Distanzen: Er meint, etwas über diesen Übermenschen sagen zu müssen, weil dieser Begriff ansonsten natürlich völlig mystisch und rational gänzlich leer bliebe (und er darüber nur hätte schweigen können! siehe Wittgenstein ...) – und so schiebt er dem Wesen dieses angeblichen Übermenschen sich selbst in der Weise unter, dass er sein eigenes Angerührtsein durch das Denken und sein annehmendes Für-Wahr-Halten der EWdGl als einen "Kontakt zum Übermenschen" interpretiert, in welchem er "ahnungsweise" sich als in diesen verwandelt empfinden mag. Anstatt sich klar zu werden, dass er hier nur in Kontakt zu sich selbst, zum eigenen über sich selbst hinauswollenden Selbst steht! Damit hat man zwar eine der höchsten Stufen des Existierens als "letzter Mensch" erlebt – doch ist man deswegen schon Übermensch?

Anmerkungen:

* Dieser aus dem Jahr 1988 stammende Text wurde für die Ausgabe 4/2023 der Zeitschrift Aufklärung & Kritik überarbeitet, um die so häufig zitierten Hauptbegriffe der Nietzscheschen Philosophie anthropologisch einzuordnen.
(1) Also sprach Zarathustra,.Von der schenkenden Tugend 3, KSA 4, 101.
(2) Man besehe zu diesem Missbrauch die Reden Adolf Hitlers. Ausführliche Besprechung dieser Zusammenhänge auf meiner Nietzsche-Seite www.f-nietzsche.de unter „Der Wille zur Macht: Nietzsche-Rezeption 1939“.
(3) „20[2]: Du liefst zu rasch: / jetzt erst, wo du müde bist, / holt dein Glück dich ein.“, KGA VIII 3, S. 353.
(4) Herbst 1888, KGA VIII 3, S. 386.
(5) „Ziel: auf einen Augenblick den Übermenschen zu erreichen. Dafür leide ich alles!“, KSA 10, 167.
(6) „Der Mensch muss besser und böser werden“ – so lehre ich. Das Böseste ist nöthig zu des Übermenschen Bestem.“ . Also sprach Zarathustra, KSA 4, 359.
(7) „Seine eigentliche Philosophie entwickelt Nietzsche aus der Verbindung des Tragischen („Dionysos“) und des „Genius“ mit seiner Einsicht in die Notwendigkeit einer Moralumkehr. Aus der Erkenntnis, dass „Gott tot sei“, folgt zwingend, dass sich die Menschheit in einer dadurch sinnlos gewordenen Welt diesen Sinn selbst schaffen müsse. Dies könne aber nur gelingen durch das starke und höhere Individuum, den „Übermenschen“. Der Sinn des heutigen Menschen besteht dann darin, die Bedingungen für die Hervorbringung dieses über sie selbst hinaus weisenden Typs bereit zu stellen. Die Richtigkeit dieses Ansatzes wird begründet mit der (angeblichen) Erkenntnis, dass alles Seiende in der Welt „Wille zur Macht“ sei, und sonst nichts – was für den Menschen bedeute, dass sein natürlicher Auftrag in dieser Steigerung über sich selbst hinaus liege, den er sich mithin nun bewusst und selbst vorzusetzen habe. Zwei Mittel sollen den Menschen dazu in die Lage versetzen:
– Die Annahme des Gedankens der „Ewigen Wiederkunft des Gleichen“; obwohl Nietzsche auch die rein physikalische Richtigkeit des Prinzips für das gesamte Universum nachzuweisen sucht, liegt die Bedeutung auch für ihn selbst vor allem auf ethischem Gebiet: Das „Schwergewicht“ dieses Gedankens, „wenn er als wahr geglaubt wird“, ergibt sich aus der genau gleichen Wiederkunft jeden gelebten Augenblicks; durch sein eigenes Handeln als identisch wiederkehrendes wird der Mensch zu seinem eigenen Richter anstelle Gottes für alle Vergangenheit und Zukunft.
– „Züchtung“ dieses höheren Typus durch die Bereitstellung entsprechender gesellschaftlicher Bedingungen, insbesondere des Rangunterschiedes zwischen der neuen „(über)menschlichen Aristokratie“ (auch unter dem Namen der „prachtvollen blonden Bestie“ auftretend) sowie den dazu unfähigen „letzten Menschen“ als deren „Sklaven“ (auch als der Typus der décadence bzw. des Ressentiments bezeichnet).“ zit.n. Helmut Walther,, „Nietzsche und das Glück“, Aufklärung & Kritik Sonderheft 14/2008, S. 140.

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