Friedrich Nietzsche - ein anti-antisemitischer Freund der Juden oder ein geistiger Wegbereiter des Holocaust?

Die Einstellung des Philosophen zum Antisemitismus, zur jüdischen Religion und zu den Juden

Dr. Armin Pfahl-Traughber (Köln)

Ähnlich kontrovers wie andere Aspekte von Friedrich Nietzsches Werk(1) wird auch das Verhältnis des Philosophen zum Antisemitismus, zum Judentum und zu den Juden diskutiert.(2) Dabei spielt die Frage, inwieweit er als ideologischer Wegbereiter des Nationalsozialismus anzusehen ist, eine wichtige Rolle. Der Auffassung, sein Denken habe erst den Holocaust möglich gemacht(3), steht die Meinung gegenüber, er sei ein Gegner des Antisemitismus und Freund der Juden gewesen.(4) Wie erklären sich derartig widersprüchlich scheinende Deutungen? Sind sie Ausfluß der Ambivalenz vieler Aussagen Nietzsches? Oder wird der Philosoph jeweils nur einseitig gedeutet? Beides mag bis zu einem gewissen Grade zutreffen, der eigentliche Grund für die unterschiedlichen Interpretationen dürfte allerdings in einem anderen Aspekt der Diskussion zu suchen sein. In ihr vermengen sich Positionen und Themen, die miteinander zusammenhängen, aber nicht zwingend in der angenommenen Art und Weise. So muß etwa die Ablehnung der jüdischen Religion nicht notwendigerweise mit der Bejahung des Antisemitismus einhergehen. Auch Vernichtungsoptionen im philosophischen und politischen Denken müssen keineswegs gezielt auf die soziale Gruppe der Juden gemünzt sein.

Hier bedarf es der Differenzierung! Dabei sollen die Auffassungen Nietzsches zu den unterschiedlichen Bezugsthemen der Diskussion zunächst getrennt untersucht und nach ihrer inhaltlichen Begründung befragt werden. Hierzu gehören im besonderen das Verhältnis zum Antisemitismus als politischer Bewegung seiner Zeit, zum Judentum als Religion und zu den Juden als sozialer Gruppe und im allgemeinen seine Auffassungen über Nationalismus, Rassismus und Vernichtungsoptionen. Erst danach wäre das Abhängigkeits- und Wechselverhältnis der jeweiligen Einstellungen zueinander zu erörtern. Eine solche – bislang in der Forschungskontroverse nur selten(5) praktizierte – Herangehensweise stellt bei Nietzsche die Koexistenz scheinbar widersprüchlicher Auffassungen fest: Er lehnte den Antisemitismus seiner Zeit ab; er würdigte das ursprüngliche Judentum; er verdammte dessen weitere Entwicklung; er verhöhnte den deutschen Nationalismus; er trat für eine deutsch-jüdische "Rassenvermischung" ein; und er schwelgte in Vernichtungsphantasien. All diese Auffassungen müssen nicht im Gegensatz zueinander stehen, ihre inhaltliche Stringenz im Kontext ergibt sich aber erst vor dem Hintergrund von Nietzsches philosophischem Denken.

1. Die Motive für die Ablehnung des Antisemitismus

Überblickt man das Werk Nietzsches, so fällt auf, daß er eine eindeutig ablehnende Haltung gegenüber dem als politische Bewegung in seiner Zeit aufkommendem Antisemitismus einnahm. Der Philosoph äußerte sich dabei keineswegs in zurückhaltender Weise, sondern in der ihm eigenen sprachlichen Schärfe. Am deutlichsten zeigt sich diese Einstellung in einer Passage in "Jenseits von Gut und Böse", wo Nietzsche den Juden ihren Anspruch auf Anerkennung zugesteht. Um dies besser zu erreichen, so heißt es dann wörtlich, wäre es "vielleicht nützlich und billig ..., die antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen".(6) Diese Aussage läßt in Form und Inhalt an Deutlichkeit einer Ablehnung nichts zu wünschen übrig. Auch beim Bruch mit einigen früheren Freunden spielte deren Antisemitismus als Motiv zwar nicht die eigentliche Rolle, er wurde aber von Nietzsche als wichtig genug für eine dezidierte Benennung angesehen. Dies veranschaulicht etwa ein Kommentar über den Komponisten Richard Wagner(7) in "Nietzsche contra Wagner": "Ich vertrage nichts Zweideutiges; seitdem Wagner in Deutschland war, kondeszentierte er Schritt für Schritt zu allem, was ich verachte – selbst zum Antisemitismus ..."(8)

Angesichts solcher Äußerungen wäre zweifelsohne jenen Nietzsche-Interpreten zuzustimmen, welche in ihm einen erklärten Gegner des Antisemitismus sehen. Viele Kritiker des Philosophen, die ihn als ideologischen Wegbereiter des Nationalsozialismus deuten, ignorieren wiederum den deutlichen Anti-Antisemitismus. Hier soll aber nicht beim Konstatieren dieser Einstellung bei Nietzsche stehen geblieben werden. Für das Verständnis seines Denkens verdient Interesse, warum der Philosoph den Antisemitismus so vehement ablehnte. Zwar äußerte er sich auch wohlwollend gegenüber den Juden als soziale Gruppe, allerdings bestimmte diese Einstellung nicht seine Haltung gegenüber dem Antisemitismus. Auch zählte Nietzsche als Gegner der Aufklärung und Befürworter der Sklaverei nicht zu den Anhängern der Auffassung, wonach allen Menschen unabhängig von ihrer besonderen ethnischen, religiösen und sozialen Zugehörigkeit gleiche Rechte zustehen. Insofern formulierte er seine Ablehnung des Antisemitismus nicht aus humanistischen Motiven heraus, wie die zeitgenössischen Befürworter der Emanzipation und Gleichstellung der Juden. Worin bestanden nun aber die Gründe für Nietzsches Haltung?

Aufschluß darüber geben verschiedene Passagen seiner Werke, die in der Regel in ihrem inhaltlichen Kontext nicht ausführlicher beachtet werden. Eine wichtige Stelle zum Verständnis findet sich im Nachlaß aus den achtziger Jahren, wo der Philosoph seine Abwertung der Kranken und Schwachen deutlich zum Ausdruck bringt. Wörtlich heißt es dort: "Die Antisemiten vergeben es den Juden nicht, daß die Juden ‘Geist’ haben – und Geld. Die Antisemiten – ein Name der ‘Schlechtweggekommenenen’".(9) Nietzsche macht hier eine durchaus zutreffende Feststellung hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung der antisemitischen Bewegung im Wilhelminischen Kaiserreich: Sie bestand in der Tat sowohl an ihrer Führungsspitze als auch an der Basis überwiegend aus sozial Gescheiterten, seien dies Journalisten oder Lehrer, die beruflich keinen Erfolg zu verzeichnen hatten, oder Angehörige des Kleinbauerntums und Mittelstandes, die mit den sozioökonomischen Modernisierungsprozessen nicht Schritt halten konnten. Daher bündelte sich im politischen Antisemitismus das Ressentiment gegen die sozial aufsteigenden Juden mit dem Sozialprotest gegen die Folgen einer wirtschaftlichen Veränderung.(10)

An der antisemitischen Bewegung störte Nietzsche nicht primär die Feindschaft gegen die Juden, sondern deren soziale Ansprüche auf ökonomische Ressourcen. Nicht die Hetze gegen eine Minderheit bildete das grundlegende Motiv seiner Empörung. Weitaus entscheidender war die Verachtung des propagierten Anspruchs auf Gerechtigkeit und Gleichheit. Gerade diese Einstellung gegenüber den Schlechtergestellten und Schwachen erklärt, warum der Philosoph die Ablehnung des Antisemitismus auch im Kontext einer Ablehnung der Arbeiterbewegung formulierte. Aufschlußreich in dieser Hinsicht ist ein längeres Zitat aus "Zur Genealogie der Moral": "Hier ein ablehnendes Wort gegen neuerdings hervorgetretene Versuche, den Ursprung der Gerechtigkeit auf einem ganz anderen Boden zu suchen – nämlich auf dem des Ressentiment. ... diese Pflanze blüht jetzt am schönsten unter Anarchisten und Antisemiten ... Und wie aus Gleichem notwendig immer Gleiches hervorgehn muß, so wird es nicht überraschen, gerade wieder aus solchen Kreisen Versuche hervorgehn zu sehn, wie sie schon öfter dagewesen sind ..., die Rache unter dem Namen der Gerechtigkeit zu heiligen ..."(11) Mit Anarchisten spielte Nietzsche hier auf die Sozialisten an.

Das angebliche Ressentiment der Schwachen gegenüber den Starken und der Unglücklichen gegenüber den Glücklichen motivierte auch die Kritik an dem in der Arbeiterbewegung zeitweilig geschätzten, späteren rabiaten Antisemiten Eugen Dühring. In "Zur Genealogie der Moral" heißt es über ihn: "Bis in die geweihten Räume der Wissenschaft hinein möchte es sich hörbar machen, ... die bissige Verlogenheit und Wut solcher ‘edlen’ Pharisäer (– ich erinnere ... an jenen Berliner Rache-Apostel Eugen Dühring, der im heutigen Deutschland den unanständigsten und widerlichsten Gebrauch vom moralischen Bumbum macht: Dühring, das erste Moral-Großmaul, das es jetzt gibt, selbst noch unter seinesgleichen, den Antisemiten). Das sind alles Menschen des Ressentiment, diese physiologisch Verunglückten und Wurmstichigen, ein ganzes zitterndes Erdreich unterirdischer Rache, unerschöpflich, unersättlich in Ausbrüchen gegen die Glücklichen und ebenso in Maskeraden der Rache, in Vorwänden zur Rache ..."(12) Auch hier störte den Philosphen an Dühring insbesondere das soziale Ressentiment, das ihm sowohl in der Phase seines Engagements in der Arbeiter- wie in der Antisemitenbewegung eigen war.

Letztere verachtete Nietzsche als Ausdruck der Dekadenz des Geistes, der Dummheit der Massen und der Ressentiments des Pöbels. In einem weiteren Zitat aus "Zur Genalogie der Moral" kommt dies in folgenden Formulierungen zum Ausdruck: " ... ich mag auch sie nicht, diese neuesten Spekulanten in Idealismus, die Antisemiten, welche heute die Augen christlich-arisch-biedermännisch verdrehn und durch einen jede Geduld erschöpfenden Mißbrauch des wohlfeilsten Agitationsmittels, der moralischen Attitüde, alle Hornvieh-Elemente des Volkes aufzuregen suchen (– daß jede Art Schwindel-Geisterei im heutigen Deutschland nicht ohne Erfolg bleibt, hängt mit der nachgerade unableugbaren und bereits handgreiflichen Verödung des deutschen Geistes zusammen ...)."(13) Weniger die inhaltliche Zielrichtung in Gestalt der Hetze gegen die Juden verstörte den Philosophen. Vielmehr sah er im politischen Antisemitismus eine weitere Variante der "Sklavenmoral" des "Herdenmenschen", der in seiner Schwäche das Ressentiment gegen den Starken artikuliere. Die Ablehnung des Antisemitismus war somit nicht grundsätzlicher Natur, sondern abhängig von der Zuordnung von Antisemiten und Juden zur Gruppe der Schwachen und der Starken.

2. Die ambivalente Einstellung gegenüber der jüdischen Religion

Ähnlich verhält es sich bei Nietzsches ambivalenter Einstellung gegenüber der jüdischen Religion. In seinen Schriften finden sich einerseits anerkennende Kommentare zum Judentum der biblischen Zeit und andererseits fundamentale Verwerfungen der darauf folgenden Weiterentwicklung. In "Jenseits von Gut und Böse" heißt es zunächst: "Im jüdischen ‘Alten Testament’, dem Buche von der göttlichen Gerechtigkeit, gibt es Menschen, Dinge und Reden in einem so großen Stile, daß das griechische und indische Schriftum ihm nichts zur Seite zu stellen hat. Man steht mit Schrecken und Ehrfurcht vor diesem ungeheuren Überbleibsel dessen, was der Mensch einstmals war, und wird dabei über das alte Asien und sein vorgeschobnes Halbinselchen Europa, das durchaus gegen Asien den ‘Fortschritt des Menschen’ bedeuten möchte, seine traurigen Gedanken haben." Und nur wenige Zeilen später bemerkt Nietzsche: "Dieses Neue Testament, eine Art Rokoko des Geschmacks in jedem Betrachte, mit dem Alten Testament zu einem Buche zusammengeleimt zu haben, als ‘Bibel’, als ‘das Buch an sich’: das ist vielleicht die größte Verwegenheit und ‘Sünde wider den Geist’, welche das literarische Europa auf dem Gewissen hat."(14)

Ähnlich unterschiedliche Wertungen finden sich in "Der Antichrist". Zunächst heißt es: "Ursprünglich, vor allem in der Zeit des Königtums, stand auch Israel zu allen Dingen in der richtigen, das heißt der natürlichen Beziehung. Sein Javeh war der Ausdruck des Macht-Bewußtseins, der Freude an sich, der Hoffnung auf sich: in ihm erwartete man Sieg und Heil, mit ihm vertraute man der Natur, daß sie gibt, was das Volk nötig hat – vor allem Regen. Javeh ist der Gott Israels und folglich Gott der Gerechtigkeit: die Logik jedes Volkes, das in Macht ist und ein gutes Gewissen davon hat." Unmittelbar danach bemerkt der Philosoph: "Der Gottesbegriff gefälscht; der Moralbegriff gefälscht – die jüdische Priesterschaft blieb dabei nicht stehn. Man konnte die ganze Geschichte Israels nicht brauchen: fort mit Ihr! – Diese Prieser haben jenes Wunderwerk von Fälschung zustande gebracht, als deren Dokumente uns ein guter Teil der Bibel vorliegt: sie haben ihre eigne Volks-Vergangenheit mit einem Hohn ohnegleichen gegen jede Überlieferung, gegen jede historische Realität, ins Religiöse übersetzt, das heißt, aus ihr einen stupiden Heils-Mechanismus von Schuld gegen Javeh und Strafe, von Frömmigkeit gegen Javeh und Lohn gemacht."(15)

Was lobte Nietzsche an der jüdischen Religion und was verdammte er an ihrer Weiterentwicklung? Anerkennung fand bei ihm die geistige und kulturelle Wertigkeit des Alten Testaments, die er mit der der von ihm verehrten antiken Griechen gleichstellte. Noch wichtiger war dem Philosophen allerdings die sich in diesem Text artikulierende Bejahung des Lebens, der Natur, des Machtbewußtseins und des Machtwillens. Demgegenüber sah er in der Weiterentwicklung der jüdischen Religion eine Abwendung von diesen Auffassungen. Die Priester hätten diese ursprüngliche Moral und damit ihr eigentliches Erbe gefälscht. Insbesondere in der Verbindung von Altem und Neuem Testament komme diese Entwicklung zum Ausdruck. Bereits an dieser Bemerkung zeigt sich, daß die Verwerfung der jüdischen eng mit der Verwerfung der christlichen Religion zusammenhängt. Nietzsche wandte sich gegen beide, da sie für ihn den Ausdruck einer lebensfeindlichen Moral darstellten. Hierzu gehöre auch die Vorstellung von der Sünde, wozu es in "Die fröhliche Wissenschaft" heißt: "Sünde ist ... eine jüdische Erfindung, und in Hinsicht auf diesen Hintergrund aller christlichen Moralität war in der Tat das Christentum darauf aus, die ganze Welt zu ‘verjüdeln’."(16)

Diese behauptete Wirkung ließ Nietzsche scharfe Worte gegen die Religion der Juden und damit auch gegen die historische Wirkung der Juden als Volk finden. Bezugspunkt ist dabei immer die kritisierte Moral. In "Der Antichrist" heißt es: "Die Juden sind das merkwürdigste Volk der Weltgeschichte, weil sie, vor die Frage von Sein und Nichtsein gestellt, mit einer vollkommen unheimlichen Bewußtheit das Sein um jeden Preis vorgezogen haben: dieser Preis war die radikale Fälschung aller Natur, aller Natürlichkeit, aller Realität, der ganzen inneren Welt so gut als der äußeren. Sie grenzten sich ab gegen alle Bedingungen, unter denen bisher ein Volk leben konnte, leben durfte; sie schufen aus sich einen Gegensatz-Begriff zu natürlichen Bedingungen – sie haben, der Reihe nach, die Religion, den Kultus, die Moral, die Geschichte, die Psychologie auf eine unheilbare Weise in den Widerspruch zu deren Natur-Werten umgedreht." Und weiter: "Die Juden, sind ebendamit, das verhängnisvollste Volk der Weltgeschichte: in ihrer Nachwirkung haben sie die Menschheit dermaßen falsch gemacht, daß heute noch der Christ antijüdisch fühlen kann, ohne sich als die letzte jüdische Konsequenz zu verstehn."(17)

Auch wenn diese Worte aus heutiger Sicht einen antisemitischen Beiklang aufweisen, können sie so doch nicht interpretiert werden. Sowohl die anerkennenden Einschätzungen der ursprünglichen jüdischen Religion wie die Wertschätzung der Juden als sozialer Gruppe sprechen dagegen. Gleichwohl erhebt Nietzsche den scharfen Vorwurf, diese Religion habe bei ihrer beschriebenen Entwicklung die "Ressentiment-Moral" und den "Sklavenaufstand der Moral" in die Welt gebracht. An mehreren Stellen seiner Werke finden sich solche Aussagen. So heißt es etwa in "Jenseits von Gut und Böse": "In dieser Umkehrung der Werte (zu der es gehört, das Wort für ‘Arm’ als synonym mit ‘Heilig’ und ‘Freund’ zu brauchen) liegt die Bedeutung des jüdischen Volks: Mit ihm beginnt der Sklaven-Aufstand in der Moral."(18) Und in "Zur Genealogie der Moral" schreibt Nietzsche: "Ich erinnere in betreff der ungeheuren und über alle Maßen verhängnisvollen Initiative, welche die Juden mit dieser grundsätzlichsten aller Kriegserklärungen gegeben haben, an den Satz ..., daß nämlich mit den Juden der Sklavenaufstand in der Moral beginnt: jener Aufstand, welcher eine zweitausendjährige Geschichte hinter sich hat ..."(19)

Worin bestand nun für Nietzsche dieser "Sklavenaufstand in der Moral"? Er sah darin eine Abwendung von der vornehmen "Moral aus einem triumphierenden Ja-sagen zu sich selbst" zugunsten einer Hinwendung zur Ressentiment-Moral mit ihrer Auffassung von einem grundsätzlichen Nein als ihrer schöpferischen Tat.(20) Sie stellte für den Philosophen zum einen den Aufstand gegen die Werte des Lebens und den ihm eigenen Willen zur Macht und zum anderen den Ausdruck einer Diffamierung des Starken und einer Verherrlichung des Schwachen dar. Diese historisch siegreiche Moral habe zum kulturellen Verfall geführt und sowohl die christliche wie die jüdische Religion trügen dafür Verantwortung. In "Der Antichrist" heißt es denn auch: "Die décadence ist, für die im Juden- und Christentum zur Macht verlangende Art von Mensch, eine priesterliche Art, nur Mittel: diese Art von Mensch hat ein Lebens-Interesse daran, die Menschheit krank zu machen und die Begriffe ‘gut’ und ‘böse’, ‘wahr’ und ‘falsch’ in einen lebensgefährlichen und weltverleumderischen Sinn umzudrehn."(21) Seinen Ursprung hatte für Nietzsche diese für ihn verhängnisvolle Entwicklung im Judentum, das als wesensverwandte "Art von Größenwahn" bereits vor dem Christentum "in der Welt war".(22)

3. Die Wertschätzung gegenüber den Juden als sozialer Gruppe

Trotz dieser fundamentalen Verwerfung der späteren Entwicklung der jüdischen Religion aufgrund ihrer angeblichen Verursachung des "Sklavenaufstandes in der Moral" weitete sich diese Haltung bei Nietzsche nicht auf die Juden als soziale Gruppe in der europäischen Gesellschaft seiner Zeit aus. Ganz im Gegenteil finden sich in seinen Werken zahlreiche anerkennende und würdigende Kommentare, die sogar die Juden mehrfach in ihrer Wertigkeit über die damaligen Deutschen stellten. Daher handelt es sich bei der Einstellung des Philosophen um eine Auffassung, die das Judentum ablehnt und die Juden anerkennt. Zwischen beidem muß entgegen des Eindrucks in der bisherigen Nietzsche-Diskussion zum Thema keineswegs ein grundlegender Widerspruch bestehen, geht es hier doch schlicht um die Unterscheidung zwischen den moralischen Qualitäten einer Religion und der sozialen Rolle ihrer Träger. Ebenso wichtig wie es bei der Untersuchung der Ablehnung des religiösen Judentums durch den Philosophen war, nach den besonderen inhaltlichen Gründen zu fragen, ebenso wichtig ist es auch bei der Untersuchung der Wertschätzung der Juden als soziale Gruppe, nach den besonderen inhaltlichen Gründen zu fragen.

Bereits in "Menschliches, Allzumenschliches" nimmt der Philosoph die Minderheit gegen antisemitische Vorwürfe in Schutz und hebt ihren Beitrag zur Herausbildung der europäischen Kultur hervor: "Trotzdem möchte ich wissen, wie viel man bei einer Gesamtabrechnung einem Volke nachsehen muß, welches, nicht ohne unser aller Schuld, die leidvollste Geschichte unter allen Völkern gehabt hat, und dem man den edelsten Menschen (Christus), den reinsten Weisen (Spinoza), das mächtigste Buch und das wirkungsvollste Sittengesetz der Welt verdankt. Über dies: in den dunkelsten Zeiten des Mittelalters, als sich die asiatische Wolkenschicht schwer über Europa gelagert hatte, waren es jüdische Freidenker, Gelehrte und Ärzte, welche das Banner der Aufklärung und der geistigen Unabhängigkeit unter dem härtesten persönlichen Zwange festhielten und Europa gegen Asien verteidigten; ihren Bemühungen ist es nicht am wenigsten zu danken, daß eine natürliche, vernunftgemäßere und jedenfalls unmythische Erklärung der Welt endlich zum Siege kommen konnte und daß der Ring der Kultur, welcher uns jetzt mit der Aufklärung des griechisch-römischen Altertums zusammenknüpft, unzerbrochen blieb."(23)

Nietzsche meinte hier gar, in der kulturellen Leistung der europäischen Juden eine Fortsetzung des Geistes des von ihm verehrten antiken Griechenlandes ausmachen zu können. Aus der Perspektive seines philosophischen Denkens läßt sich denn auch kaum ein höheres Lob formulieren. Es gilt dabei insbesondere dem Beitrag jüdischer Gelehrter zum logischen Denken, heißt es doch in "Die Fröhliche Wissenschaft" in dieser Hinsicht: "Europa ist gerade in Hinsicht auf Logisierung, auf reinlichere Kopf-Gewohnheiten den Juden nicht wenig Dank schuldig; voran die Deutschen, als eine beklagenswert deraisonnable Rasse, der man auch heute immer noch zuerst ‘den Kopf zu waschen hat’. Überall, wo Juden zu Einfluß gekommen sind, haben sie feiner zu scheiden, schärfer zu folgern, heller und sauberer zu schreiben gelehrt: ihre Aufgabe war es immer ein Volk ‘zur Raison’ zu bringen."(24) In diesem Zitat artikuliert sich auch des Philosophen Wertschätzung der intellektuellen Juden gegenüber der überwiegenden Mehrheit der Deutschen seiner Zeit. Er formulierte sie im Nachlaß aus den achtziger Jahren angesichts des von ihm konstatierten Mangels an Esprit und dem Vorherrschen der Stumpfheit noch einmal in dem schlichten Satz: "Welche Wohltat ist ein Jude unter Deutschen!"(25)

Neben dem Lob für die kulturelle Entwicklung Europas nannte Nietzsche aber noch einen anderen Gesichtspunkt für die Wertschätzung der Juden als soziale Gruppe. Hierin dürfte angesichts seiner philosophischen Grundposition auch sein Hauptmotiv zu sehen sein. In "Jenseits von Gut und Böse" heißt es: "Die Juden sind aber ohne allen Zweifel die stärkste, zäheste und reinste Rasse, die jetzt in Europa lebt; sie verstehen es, selbst noch unter den schlimmsten Bedingungen sich durchzusetzen (besser sogar als unter günstigen), vermöge irgendwelcher Tugenden, die man heute gerne zu Lastern stempeln möchte – dank vor allem einem resoluten Glauben, der sich vor den ‘modernen Ideen’ nicht zu schämen braucht; sie verändern sich, wenn sie sich verändern, immer nur so, wie das russische Reich seine Eroberungen macht – als ein Reich, das Zeit hat und nicht von gestern ist –: nämlich nach dem Grundsatz ‘so langsam als möglich!’"(26) Nietzsches Wertschätzung der Juden als sozialer Gruppe gilt somit insbesondere einer Eigenschaft: ihrer Zugehörigkeit nicht zur gesellschaftlichen Gruppe der Schwachen, sondern zur gesellschaftlichen Gruppe der Starken. Die Beschreibung als "stärkste, zäheste und reinste Rasse" begründet die Wertschätzung.

In diesem Zusammenhang wandte sich Nietzsche auch gegen die antisemitischen Behauptungen von einer beabsichtigen Vorherrschaft der Juden und gegen das Gebaren der antisemitischen Bewegung seiner Zeit. Unmittelbar nach dem vorherigen Zitat heißt es in "Jenseits von Gut und Böse": "Daß die Juden, wenn sie wollten – oder, wenn man sie dazu zwänge, wie es die Antisemiten zu wollen scheinen –, jetzt schon das Übergewicht, ja ganz wörtlich die Herrschaft über Europa haben könnten, steht fest; daß sie nicht darauf hinarbeiten und Pläne machen, ebenfalls. Einstweilen wollen und wünschen sie vielmehr, sogar mit einiger Zudringlichkeit, in Europa, von Europa ein- und aufgesaugt zu werden, sie dürsten darnach, endlich irgendwo fest, erlaubt, geachtet zu sein und dem Nomadenleben, dem ‘ewigen Juden’ ein Ziel zu setzen –; und man sollte diesen Zug und Drang (der vielleicht selbst schon eine Milderung der jüdischen Instinkte ausdrückt) wohl beachten und ihm entgegenkommen ..."(27) Nietzsche forderte hier also dezidiert die bürgerliche Gleichstellung und soziale Integration der Juden und nahm mit der damit verbundenen Wertschätzung der Juden als soziale Gruppe eine Minderheitenposition in der damaligen deutschen politischen Kultur ein.

Es gibt im Werk des Philosophen allerdings auch Stellen, die auf antisemitische Ressentiments hindeuten könnten. Hierzu gehört etwa die in "Die Fröhliche Wissenschaft" vorkommende Formulierung von den "krummen Nasen"(28), die allerdings im Zusammenhang mit der an dieser Stelle postulierten Wertigkeit des logischen Denkens als Ausdruck des Ansehens der Person eben keine Rolle spielen sollen. Etwas anders verhält es sich mit einer Passage in "Der Antichrist", wo es heißt: "Wir würden uns ‘erste Christen’ so wenig wie polnische Juden zum Umgang wählen: nicht daß man gegen sie auch nur einen Einwand nötig hätte ... Sie riechen beide nicht gut."(29) Die hier zum Ausdruck kommende Diffamierung der Ostjuden ist allerdings nicht antisemitisch begründet, sondern leitet sich aus Nietzsches Vorbehalten gegen die Gruppe der Schwachen in der Gesellschaft ab. Gleiches gilt für das danach folgende Zitat: "Ein Jude mehr oder weniger – was liegt daran?"(30), das in der historischen Rückschau auf die Juden in der römischen Welt gemünzt war. Gleichwohl veranschaulichen beide Zitate, daß Nietzsche keineswegs per se eine projüdische Einstellung hatte, sondern diese Einstellung vom sozialen Rang der Juden in der Gesellschaft abhing.

4. Die Ablehnung des deutschen Nationalismus und Einstellung zum Rassismus

Nietzsche gehörte auch nicht zu den Anhängern des zu seiner Zeit verstärkt aufkommenden Nationalismus, der dem deutschen Volk eine besondere Wertigkeit zuwies und die Identität eines Individuums mit ihm verherrlichte. Ganz im Gegenteil finden sich in den Werken durchgängig höhnische, schmähende und spöttische Bemerkungen gegen die Deutschen, wie folgende Beispiele belegen: Bereits in den "Unzeitgemäßen Betrachtungen" bemerkte der Philosoph, "daß die Deutschen bis jetzt keine Kultur haben".(31) In "Die fröhliche Wissenschaft" bezeichnete er sie als "eine beklagenswert deraisonnable Rasse"(32). In "Der Fall Wagner" heißt es, die Deutschen seien "das zurückgebliebenste Kulturvolk Europas"(33). Und in "Ecce Homo" bemerkt Nietzsche, sie hätten "alle großen Kultur-Verbrechen von vier Jahrhunderten ... auf dem Gewissen"(34). Insbesondere der in den letzten beiden Zitaten zum Ausdruck kommende Vorwurf, die Deutschen seien kulturell unterentwickelt, erklärt die Einstellung des Philosophen, die sich mitunter gar in antideutschen Formulierungen artikulierte: "Die Wendung zum Undeutschen ist ... immer das Kennzeichen der Tüchtigen unseres Volkes gewesen."(35) Hier lobte der Philosophen somit etwas, was die Antisemiten den Juden vorwarfen.

Seine Ablehnung des typischen deutschen nationalen Spießertums kommt auch in folgender Passage aus dem Nachlaß der achtziger Jahre deutlich zum Ausdruck: "Welche Wohltat ist ein Jude unter Deutschen! Wieviel Stumpfheit, wie flächsern der Kopf, wie blau das Auge; der Mangel an Esprit in Gesicht, Wort, Haltung; das faule Sich-strecken, das deutsche Erholungs-Bedürfnis, das nicht aus Überarbeitung, sondern aus der widrigen Reizung und Überreizung durch Alkoholika herkommt ..."(36) Bereits in "Die fröhliche Wissenschaft" hatte Nietzsche sich auch dezidiert gegen den Nationalismus gewandt: Wir sind "lange nicht ‘deutsch’ genug, wie heute das Wort ‘deutsch’ gang und gäbe ist, um dem Nationalismus und dem Rassenhaß das Wort zu reden, um an der nationalen Herzenskrätze und Blutvergiftung Freude haben zu können, derenthalben sich jetzt in Europa Volk gegen Volk wie mit Quarantänen abgrenzt, absperrt."(37) Er identifizierte sich an gleicher Stelle nicht primär als Deutscher, sondern vielmehr als Europäer. Kaum ein anderer Denker jener Zeit, selbst nicht die der politischen Linken zuordenbaren, lehnte so entschieden den deutschen Nationalismus ab. Aber auch hier gilt es, die philosophischen Motive dafür zu beachten, worauf noch später eingegangen werden soll.

Eine ähnlich klare Frontstellung wie gegen den Nationalismus läßt sich bei Nietzsche gegenüber dem Rassismus nicht ausmachen. Zunächst fällt auf, daß in seinen Schriften das Verständnis von "Rasse" unterschiedlicher Art ist. So verwendet der Philosoph den Begriff etwa in "Jenseits von Gut und Böse" sowohl als Bezeichnung für bestimmte Völker ("lateinische Rassen"), also als eine ethnische Kategorie, und gleichzeitig als Terminus für eine Herrschaftselite ("regierende Rasse"), also als eine soziale Kategorie.(38) Auch in anderen Werken geht das jeweilige Verständnis von "Rasse" durcheinander, was mitunter zu manchen problematischen Interpretationen in der bisherigen Nietzsche-Literatur führte. Gleichwohl dachte der Philosoph durchaus in ethnischen Dimensionen, wovon etwa Aussagen zur zentralen Bedeutung der Vererbung für die besondere Ausprägung von individuellen und kollektiven Einstellungen und Handlungen zeugen.(39) Gleiches bestätigt die Hervorhebung von äußeren Merkmalen ("Farbe, Kürze des Schädels") als Besonderheiten von Angehörigen bestimmter "Rassen".(40) In Nietzsches Zeit bestand allerdings auch ein breiter Meinungskonsens über das Denken in solchen Kategorien.

Dies gilt auch für einen besonderen Aspekt des "Rasse"-Diskurses: die Frage nach der Bedeutung der ethnischen Homogenität, also der "Reinheit der Rasse". Hier finden sich widersprüchliche Ausführungen in den Schriften des Philosophen. In "Morgenröte" spricht er davon, es gebe wohl keine reinen, sondern nur reingewordene "Rassen". Das Gewöhnliche seien gekreuzte "Rassen", die zugleich gekreuzte Kulturen und Moralitäten mit sich brächten. Dieser Entwicklung gegenüber sei ein "Prozeß der Reinigung" erstrebenswert, seien doch "reingewordene Rasse" auch immer schöner und stärker geworden. Wörtlich heißt es dann weiter: "Die Griechen geben uns das Muster einer reingewordenen Rasse und Kultur: und hoffentlich gelingt einmal auch eine reine europäische Rasse und Kultur"(41). Nietzsche hing somit der Auffassung einer nötigen "Reinheit der Rasse" an, bezog diese aber nicht auf die Deutschen als der ethnisch homogen zu haltenden Gruppe. Gerade angesichts der zuvor referierten Kritik am kulturellen Niveau seiner Landsleute wäre eine solche Position nur schwerlich nachvollziehbar. Den Bezugsfaktor seiner Auffassungen bildete vielmehr Europa als Ganzes, das sich von anderen "Rassen" abgrenzen sollte.

Nietzsche vertrat somit eindeutig rassistische Auffassungen, die sich aber in einem wichtigen inhaltlichen Aspekt von den Antisemiten seiner Zeit wie von den späteren Nationalsozialisten unterschied. Wie bereits die Ausführungen zur Wertschätzung der Juden als sozialer Gruppe deutlich machten, zählte der Philosoph die Juden zu den wertvollen Kräften im damaligen Europa. Sie sollten in seinem politischen Denken nicht ausgegrenzt, sondern integriert werden. Davon versprach sich Nietzsche eine Aufwärtsentwicklung für die deutsche und europäische Kultur. Zu diesem Zweck forderte er sogar eine Vermischung mit den Juden, heißt es doch in "Jenseits von Gut und Böse": "Es liegt auf der Hand, daß am unbedenklichsten noch sich die stärkeren und bereits fester geprägten Typen des neuen Deutschtums mit ihnen einlassen könnten, zum Beispiel der adelige Offizier aus der Mark: es wäre von vielfachem Interesse, zu sehen, ob sich nicht zu der erblichen Kunst des Befehlens und Gehorchens – in beidem ist das bezeichnete Land heute klassisch – das Genie des Geldes und der Geduld (und vor allem etwas Geist und Geistigkeit, woran es an der bezeichneten Stelle fehlt –) hinzutun, hinzuzüchten ließe." Ziel sei dabei "die Züchtung einer neuen über Europa regierenden Kaste".(42)

Diese Absicht erklärt auch Nietzsches Wertschätzung der Juden als soziale Gruppe, sah er in ihnen doch einen wichtigen Faktor zur gesellschaftlichen Umsetzung dieser Vorstellung. Für "die Erzeugung einer möglichst kräftigen europäischen Mischrasse", so heißt es in "Menschliches, Allzumenschliches", "ist der Jude als Ingredienz ebenso brauchbar und erwünscht als irgendein anderer nationaler Rest."(43) Der Philosoph trat somit für einen europäischen Rassismus ein und lehnte den deutschen Rassismus ab. Diese wichtige Unterscheidung erklärt auch seine spöttischen Bemerkungen über die ethnische Fixierung auf die Deutschen, wie sie in "Die fröhliche Wissenschaft" zum Ausdruck kommt: "Wir Heimatlosen, wir sind der Rasse und Abkunft nach zu vielfach und gemischt, als ‘moderne Menschen’, und folglich wenig versucht, an jener verlognen Rassen-Selbstbewunderung und Unzucht teilzunehmen, welche sich heute in Deutschland als Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau trägt und die bei dem Volke des ‘historischen Sinns’ zwiefach falsch und unanständig anmutet. Wir sind, mit einem Worte – und es soll unser Ehrenwort sein! – gute Europäer, die Erben Europas ..."(44)

5. Die eliminatorische Dimension der Lebensphilosophie

An der Entwicklung eines neuen Europas und bei der Besetzung einer neuen Herrscherkaste sollten für Nietzsche auch Juden beteiligt sein. Die künftige Elite würde aus seiner Sicht eine hierarchische Ordnung begründen und die Massen ihrer Herrschaft unterwerfen. Ein solches Vorgehen sah der Philosoph als Gebot des Lebens und der Natur an, ergebe sich doch aus beidem der "Wille zur Macht" und damit die Herrschaft der Starken gegen die Schwachen. Damit rechtfertigte er auch die Ausbeutung und Unterdrückung, heißt es doch in "Jenseits von Gut und Böse": "Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung ..." Und weiter: "Die ‘Ausbeutung’ gehört nicht einer verderbten oder unvollkommnen und primitiven Gesellschaft an: sie gehört ins Wesen des Lebendigen, als organische Grundfunktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist."(45) Ihn wollte der Philosoph, so heißt es in "Zur Genealogie der Moral", gegen den "ekelhaften Anblick des Mißratenen, Verkleinerten, Verkümmerten, Vergifteten"(46) des wimmelnden Gewürms "Mensch" wenden.

Aus solchen Auffassungen ergibt sich auch Nietzsches Rechtfertigung der Sklaverei. In dem Text "Der griechische Staat", der zu den "Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern" gehört, heißt es: Wir müssen "uns dazu verstehen, als grausam klingende Wahrheit hinzustellen, daß zum Wesen einer Kultur das Sklaventum gehöre ..." Auch wenn diese Aussage im Kontext einer historischen Betrachtung angestellt wurde, hielt Nietzsche die Sklaverei auch für seine Gegenwart für angemessen. Weiter bemerkte er: "Aus der Verzärtelung des neuen Menschen sind die ungeheuren sozialen Notstände der Gegenwart geboren, nicht aus dem wahren und tiefen Erbarmen mit jenem Elende; und wenn es wahr sein sollte, daß die Griechen an ihrem Sklaventum zugrunde gegangen sind, so ist das andere viel gewisser, daß wir an dem Mangel des Sklaventums zugrunde gehen werden: als welches weder dem ursprünglichen Christentum, noch dem Germanentum irgendwie anstößig, geschweige denn verwerflich zu sein dünkte. Wie erhebend wirkt auf uns die Betrachtung des mittelalterlichen Hörigen, mit dem innerlich kräftigen und zarten Rechts- und Sinnenverhältnisse zu dem höher Geordneten ..."(47)

Gerade um der Entwicklung einer von ihm propagierten Auffassung von Kultur willen hielt Nietzsche die Sklaverei für eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Er forderte aber nicht nur die Ausbeutung und Unterwerfung, sondern auch den Untergang und die Vernichtung des Schwachen. In "Der Antichrist" heißt es: "Die Schwachen und Mißratenen sollen zugrunde gehn: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen."(48) Auch die willkürliche Opferung der Masse im Dienste der Elite hielt Nietzsche für legitim. In "Jenseits von Gut und Böse" schrieb er: "Das Wesentliche an einer guten und gesunden Aristokratie ist aber, daß sie sich nicht als Funktion (sei es des Königstums, sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen Sinn und höchste Rechtfertigung fühlt – daß sie deshalb mit gutem Gewissen das Opfer einer Unzahl Menschen hinnimmt, welche um ihretwillen zu unvollständigen Menschen, zu Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt und vermindert werden müssen. Ihr Grundgedanke muß eben sein, daß die Gesellschaft nicht um der Gesellschaft willen da sein dürfe, sondern nur als Unterbau und Gerüst, an dem sich eine ausgesuchte Art Wesen zu ihrer höheren Aufgabe und überhaupt zu einem höheren Sein emporzuheben vermag ..."(49)

Die kommende Elite sollte für Nietzsche grundsätzlich die Option zur Vernichtung Anderer und Minderwertiger haben, heißt es doch in "Ecce Homo": "Jene neue Partei des Lebens, welche die größte aller Aufgaben, die Höherzüchtung der Menschheit in die Hände nimmt, eingerechnet die schonungslose Vernichtung aller Entartenden und Parasitischen, wird jenes Zuviel von Leben auf Erden wieder möglich machen, aus dem auch der dionysische Zustand wieder erwachsen muß."(50) Derartige Vernichtungsphantasien ziehen sich durch das gesamte Werk Nietzsches, es handelt sich somit nicht um Ausnahmen oder Ausrutscher. Der Philosoph stellte die Opferung und Vernichtung von Menschen sogar in einen direkten Zusammenhang mit der Entwicklung des Fortschritts . In "Zur Genealogie der Moral" bemerkte er: "Die Größe eines ‘Fortschritts’ bemißt sich sogar nach der Masse dessen, was ihm alles geopfert werden mußte; die Menschheit als Masse dem Gedeihen einer einzelnen stärkeren Spezies Mensch geopfert – das wäre ein Fortschritt ..."(51) In diesem Zitat mag eine polemische Zuspitzung der eigentlichen Position enthalten sein, es vermittelt gleichwohl einen Einblick in die Konsequenzen eines solchen Denkens.

Deutlich offenbart sich in solchen Ausführungen die eliminatorische Dimension von Nietzsches Philosophie. Ähnliche Vernichtungsphantasien finden sich auch im Nachlaß der achtziger Jahre, wo es etwa heißt: "Eine Kriegserklärung der höheren Menschen an die Masse ist nötig! ... Alles, was verweichlicht, sanft macht, das ‘Volk’ zur Geltung bringt oder das ‘Weibliche’, wirkt zugunsten des suffrage universel, d. h. der Herrschaft der niederen Menschen. Aber wir wollen Repressalien üben und diese ganze Wirtschaft (...) ans Licht und vors Gericht bringen." Und zuvor bemerkte Nietzsche: "Es bedarf einer Lehre, stark genug, um züchtend zu wirken: stärkend für die Starken, lähmend und zerbrechend für die Wehmüden. Die Vernichtung der verfallenden Rassen. ... Die Vernichtung des suffrage universel: d. h. des Systems, vermöge dessen die niedrigsten Naturen sich als Gesetz den Höheren vorschreiben. – Die Vernichtung der Mittelmäßigkeit und ihrer Geltung. (Die Einseitigen, einzelne – Völker; Fülle der Natur zu erstreben durch Paarung von Gegensätzen: Rassen-Mischungen dazu.)"(52) Deutlich offenbart dieses Zitat den zumindest theoretischen Willen zu einer Vernichtung von als schwach geltenden Kollektiven in Gestalt von "Rassen".

Aus den beschriebenen Auffassungen zum Umgang mit den Schwachen leitete Nietzsche auch eine besondere Moral für Ärzte ab. Sie ging davon aus, daß der Kranke ein Parasit der Gesellschaft sei. In der "Götzen-Dämmerung" forderte der Philosoph: "Eine neue Verantwortlichkeit schaffen, die des Arztes, für alle Fälle, wo das höchste Interesse des Lebens, des aufsteigenden Lebens, das rücksichtsloseste Nieder- und Beiseite-Drängen des entarteten Lebens verlangt – zum Beispiel für das Recht auf Zeugung, für das Recht, geboren zu werden, für das Recht, zu leben ..."(53) Angesichts solcher Auffassungen dürfte es sicherlich nicht übertrieben sein, die spätere Euthanasie-Praxis im Nationalsozialismus(54) als konsequente Umsetzung einer solchen Moral anzusehen. Etwa 120.000 Behinderte und Geisteskranke ermordete man, weil sie angeblich "lebensunwertes Leben" darstellten. Zwar gibt es keine Belege dafür, daß bei der Planung und Umsetzung der Taten ein zentraler geistiger Einfluß von Nietzsches Philosophie ausging. Gleichwohl entsprachen die Morde seinen zitierten Auffassungen und Forderungen, die den Philosophen nach seinem geistigen Zusammenbruch 1889 auch selbst getroffen hätten.

6. Schlußbetrachtung

Das Auswahlkriterium zur Benennung von Opfern für einen solchen Vernichtungsakt stellte nicht eine ethnische oder religiöse Zugehörigkeit, sondern eine behauptete Schwäche gegenüber den Starken dar. Insofern bezog sich die eliminatorische Dimension von Nietzsches Philosophie nicht auf die Juden seiner Zeit, ordnete er sie doch eindeutig den Starken zu. Dabei entstand eine aus heutiger Sicht absurd anmutende Eingruppierung von geistigen Auffassungen uind gesellschaftlichen Gruppen. Als Artikulationsformen der von ihm verachteten "Ressentiment-Moral" der Schwachen lehnte der Philosoph die antisemitischen Gruppen und die jüdische Religion ab, während er die ursprüngliche jüdische Religion und die damaligen Juden als Artikulationsformen der von ihm verehrten "aristokratischen Moral" der Starken schätzte. Die modernen Juden sollten bei der Herausbildung und Züchtung einer künftigen neuen herrschenden Elite Europas gar eine wichtige Rolle spielen. Die Vernichtungsphantasien richteten sich also erklärtermaßen nicht gegen die Juden als soziale Gruppe. Kann daher die Frage, ob Nietzsche ein philosophischer Wegbereiter des Holocaust war, eindeutig verneint werden? Engt man eine Antwort inhaltlich auf den konkreten historischen Vorgang und die spezifische Opfergruppe ein, dann sicherlich.

Indessen gehörten zu einer solchen Wirkung auch allgemeine Voraussetzungen, die erst den geistigen und gesellschaftlichen Nährboden für den Weg zum Holocaust schufen. Nicht zufällig stellten die Nationalsozialisten ihr Regime als die Verwirklichung der Visionen des Philosophen dar.(55) So so sehr hierbei politische Absichten und inhaltliche Verzerrungen mit eine Rolle spielten, so dürfen doch nicht die grundlegenden Gemeinsamkeiten übersehen werden: die Ablehnung von Demokratie und Partizipation, die Bejahung der Unterdrückung und Vernichtung von Schwachen, die Bekämpfung des Gleichheitsideals und der Rechtsgarantie, die Diffamierung von Aufklärung und Humanität und die Forderung nach einer Elite-Herrschaft mit grenzenloser Macht.(56) Als Unterschiede bestehen bezogen auf Nietzsche die Ablehnung des Antisemitismus, die Bejahung einer deutsch-jüdischen Vermischung und die Orientierung an Europa statt an der deutschen Nation. In der Gewichtung dürften die in den Vernichtungsvorstellungen kulminierenden Gemeinsamkeiten aber überwiegen. Als Dissens bleibt dabei die Zuordnung der Juden zur Gruppe der Starken oder zur Gruppe der Schwachen. Die Nationalsozialisten nahmen eine solche Entscheidung im letztgenannten Sinne vor und zogen daraus die bekannten eliminatorischen Konsequenzen.

Anmerkungen:

(1) Zitiert wird der Philosoph hier nach der von Karl Schlechta herausgegebenen Ausgabe Friedrich Nietzsche, Werke in sechs Bänden, München-Wien 1980. Die Angabe der Bände bezieht sich im Folgenden auf diese Edition. Um das Auffinden der Zitate in anderen Ausgaben zu erleichtern, wurde nach den Seitenangaben in Klammern auf die Abschnitte, Kapitel oder Nummern verwiesen.

(2) Vgl. Jacob Golomb (Hrsg.), Nietzsche und die jüdische Kultur, Wien 1998.

(3) Vgl. Steven E. Aschheim, Nietzsche, der Antisemitismus und der Holocaust, in: ebenda, S. 13-30.

(4) Vgl. Weaver Santaniello, Nietsche und die Juden im Hinblick auf Christentum und Nazismus – nach dem Holocaust, in: ebenda, S. 31-66.

(5) Eine Ausnahme bildet Yirmiyahu Yovel, Nietzsche und die Juden: Die Struktur einer Ambivalenz, in: ebenda, S. 126-142, vgl. auch ders., Dark Riddle. Hegel, Nietzsche and the Jews, Cambridge 1998.

(6) Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Bd. IV, S. 718 (Nr. 251).

(7) Vgl. Jacob Katz, Richard Wagner. Vorbote des AntisemitismusKönigstein/Ts. 1985; Paul Lawrence Rose, Richard Wagner und der Antisemitismus, Zürich 1999.

(8) Nietzsche, Nietzsche contra Wagner, in: Bd. IV, S. 1054 (Wie ich von Wagner loskam, Nr. 1).

(9) Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: Bd. VI, S. 707.

(10) Vgl. Paul W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt/M. 1959; Peter Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867-1914, Gütersloh 1966.

(11) Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Bd. IV, S. 814 (Nr. 11).

(12) Ebenda, S. 865 (Nr. 14).

(13) Ebenda, S. 896 (Nr. 26).

(14) Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Bd. IV, S. 614f. (Nr. 52)

(15) Nietzsche, Der Antichrist, in: Bd. IV, S. 1185 (Nr. 25 und Nr. 26).

(16) Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Bd. III, S. 131 (Nr. 135).

(17) Nietzsche, Der Antichrist, in: Bd. IV, S. 1184 (Nr. 24).

(18) Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Bd. IV, S. 653 (Nr. 195).

(19) Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Bd. IV, S. 780 (Erste Abhandlung/Nr. 7).

(20) Vgl. ebenda, S. 782 (Erste Abhandlung/Nr. 10).

(21) Nietzsche, Der Antichrist, in: Bd. IV, S. 1185 (Nr. 24).

(22) Ebenda, S. 1208 (Nr. 44).

(23) Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, in: Bd. II, S. 686 (Erster Band/Nr. 475)

(24) Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, in: Bd. III, S. 215 (Nr. 348).

(25) Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: Bd. VI, S. 806.

(26) Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Bd. IV, S. 717 (Nr. 251).

(27) Ebenda, S. 717f. (Nr. 251).

(28) Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, in: Bd. III, S. 214 (Nr. 348).

(29) Nietzsche, Der Antichrist, in: Bd. IV, S. 1210 (Nr. 46).

(30) Ebenda, S. 1211 (Nr. 46).

(31) Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, in: Bd. I, S. 277 (2. Stück, Nr. 10).

(32) Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Bd. III, S. 215 (Nr. 348).

(33) Nietzsche, Der Fall Wagner, in: Bd. IV, S. 928 (Nachschrift).

(34) Nietzsche, Ecce homo, in: Bd. IV, S. 1147 (Der Fall Wagner, Nr. 2).

(35) Nietzsche, Menschliches , Allzumenschliches, in: Bd. II, S. 852 (Zweiter Band/Nr. 323)

(36) Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: Bd. VI, S. 806.

(37) Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Bd. III, S. 253 (Nr. 377).

(38) Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Bd. IV, S. 612 (Nr. 48) und S. 621 (Nr. 60).

(39) Vgl. ebenda, S. 738 (Nr. 264).

(40) Vgl. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Bd. IV, S. 776 (Erste Abhandlung/Nr. 5).

(41) Nietzsche, Morgenröte, in: Bd. II, S. 1182 (Nr. 272).

(42) Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Bd. IV, S. 718 (Nr. 251).

(43) Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, in: Bd. II, S. 686 (Nr. 475).

(44) Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Bd. III, S. 253 (Nr. 377).

(45) Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Bd. IV, S. 729 (Nr. 259).

(46) Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Bd. IV, S. 787 (Nr.11).

(47) Nietzsche, Der griechische Staat, in: Bd. V, S. 276f. (Vorrede)

(48) Nietzsche, Der Antichrist, in: Bd. IV, S. 1166 (Nr. 2).

(49) Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Bd. IV, S. 728 (Nr. 258).

(50) Nietzsche, Ecce Homo, in: Bd. IV, S. 1111, (Die Geburt der Tragödie, Nr. 4).

(51) Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Bd. IV, S. 819 ("Schuld", "schlechtes Gewissen" und Verwandtes/Nr. 12)

(52) Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: Bd. VI, S. 430f.

(53) Nietzsche, Götzen-Dämmerung, in: Bd. IV, S. 1010 (Nr. 26).

(54) Vgl. Ernst Klee, "Euthanasie" im NS-Staat. Die "Vernichtung lebensunwerten Lebens", Frankfurt/M. 1983.

(55) Vgl. Steven E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. karriere eines Kults, Stuttgart 1996, S. 251-328 und 336-352 sowie als unterschiedliche neuere Darstellungen Manfred Riedel, Nietzsche in Weimar. Ein deutsches Drama, Leipzig 2000; Bernhard H. F. Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum, Leipzig 2000..

(56) Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Friedrich Nietzsche – ein ideologischer Wegbereiter des Hitler-Regimes? Zu den politischen Auffassungen des Philosophen und deren Gemeinsamkeiten mit denen des Nationalsozialismus, in: Humanismus aktuell, i. E.


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