Franz Overbeck über Nietzsche und Stirner

S. 191 - 194

In: Franz Overbeck, Werke und Nachlaß, Band 7/2 Autobiographisches. "Meine Freunde Treitschke, Nietzsche und Rohde", Verlag J. B. Metzler, Hg. von Barbara von Reibnitz und Marianne Stauffacher-Schaub, Stuttgart-Weimar 1999

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Nietzsche u. Stirner.

1. Ed v. Hartmann Ethische Studien. Leipz. 1898 muss, wie ich aus der Anzeige dieses Buchs von O. Ritschl Theolog. Litt. Ztg 1899 N° 13 Sp. 401 entnehme, über N.’s. Verhältniss zu Stirner speculiren, er schliesst wie es scheint Bekanntschft mit Stirner aus seiner Bekanntschaft mit Hartmann’s Philos. des Unbew. und folgert auf absichtl. Verhüllg der Thatsache durch N. Ebenso räsonniert über die Frage nur auf Grund unsicherer Vermuthgen Frau El. Förster in ihrer Einltg zu H. Lichtenbergers Die Philosophie Fr. Nietzsche’s Dresden u. Leipz. 1899 S. LXVIIf. und behauptet unbedenkl. Unbekanntschaft N’s. mit St. Die ganze Frage ist aber erledigt nachdem ich aus Anlass der Aeusserg Joel’s in seinem Aufsatz über Stirner in der Neuen Dtschen Rdschau Bd. IX 1898 S. ... aus einem alten Ausleihebuch der Basler Bibliothek im Febr. 1899 ermittelt habe, dass Baumgartner am 14. Juli des Jahres 1874 das Stirner’sche Werk von dort entliehen hat, d. h. noch im selben Semester, in welchem er nach seinem Abgang vom Basler Paedagogium als ein Lieblingsschüler Nietzsche’s sein Studium

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hier begonnen. Er hatte das ganze Semester zu N.’s. intimstem Umgang gehört, und hat wie ich nun von ihm selbst mir habe bestätigen lassen, das Stirner’sche Werk damals ledigli. auf N’s. wärmste Empfehlg kennen lernen. Wenn aber N. darnach Stirner auf jeden Fall gekannt hat, so bleibt daneben die auffallende Tatsache, dass so viel ich sehe, (die) Baumgartner’sche Einsichtnahme von Stirner im Sommer 1874 die einzige directe Spur einer Bekanntschaft N’s. mit Stirner ist. Nicht nur dass N’s. Werke, so viel bis jetzt constatirt ist, keine weitere Spur davon enthalten, sondern ausser Baumgartner theilen sämmtli. mit N. damals intim verkehrenden Personen Frau Förster’s gänzliches Nichtswissen von einer Lectüre Stirner’s durch Nietzsche. Ich selbst*, aber

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auch Köselitz. (und Romundt**) Es unterliegt keinem Zweifel, dass N. sich bei Stirner eigenthümlich verhalten hat. Wenn er aber seine grosse habituelle Mittheilsamkt bei ihm nicht ungehemmt hat walten lassen, so ist das freilich ganz gewiss nicht geschehen um irgend einen Einfluss Stirner’s auf ihn zu secretiren, (der im ge(nui)nen Sinne gar nicht vorhanden ist), sondern weil er von Stirner einen Eindruck empfangen hat, mit dem er im Allgem. für sich allein fertig zu werden vorziehen mochte. Ich spreche hierbei aus meiner persönlichen Erfahrung von Nietzsche’s Art, insbesond. von seiner von keinem, der ihn gekannt hat, zu bezweifelnden ganz ungewöhnlichen Mittheilsamkeit. Eben diese war mit einer ebenso ungewöhnlichen »Verschlossenheit« verbunden. Er war nichts weniger als ein Mensch, der »das Herz auf der Zunge hatte«, so viel man von ihm auch von »Herzensgeheimnissen« hörte, die Andere für sich zu behalten pflegen. Gerade was ihn lebhaft beschäftigte behielt er mit unvergleichlicher Energie in seiner Gewalt. Es drängte mit ungewöhnl. Mächtigkeit aus ihm heraus und konnte doch unter Niemandes Verschluss sicherer stehen. Wie wählerisch er bei aller Fülle seiner Mittheilungen war, davon habe ich vielfältige Erfahrgen gemacht, keine, von der ich einen lebhafteren Eindruck behalten hätte, als die mit seinen zu mir im J. 1874/5 gethanen Aeusserungen über Wagner und seinen Lohengrin gemachte. Sie anticipirten schon damals den »Fall Wagner«, und tauchten im Moment für mich, zu eigener grösster Ueberraschg, blitzartig auf um ebenso und zwar für Jahre zu verschwinden. Denn so lange liess N. dgl. in unserem Verkehr nicht mehr dem Zaun seiner Zähne entfahren, und für die Welt schrieb er 1876 R. Wagner in Bayreuth. Die Annahmen, die ich hier über sein Verhalten zu Stirner mache, enthalten nur die Vorausstzg dass der von

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dessen Werk empfangene Eindruck auf N. ein starker und besonders beschaffener war. Diese Voraussetzung wird aber, wie ich meine, mir nicht so leicht bestritten werden. Ich behaupte demgemäss, dass N. Stirner gelesen hat und vermuthe, dass er mit dem erhaltenen Eindruck besonders haushälterisch verfahren ist. Das mag für Gegner seiner Bücher ohne Weiteres die Folgerung begründen, dass er ein Plagiator gewesen ist. Wer ihn selbst gekannt hat, wird hieran nur zu allerletzt denken. (2. Juli 1899).

2. »Starke Beeinflussg« N’s. durch Stirn. nimmt an M. Kronenberg Moderne Philosophen. Münch. 1899 S. 182.

3. Zwischen Köselitz u. mir ist durch eine Karte Köselitzens mit dem Poststempel vom 17. Febr. 1895 schon damals die Frage der Bekanntschft Nietzsche(s) mit Stirner zur Sprache gekommen. Auch Kös. bezeugt, dass er keinerlei auf Mitthlgen N’s. gegründete Erinnerungen an diese Bekanntschft hat. Vgl. dazu die späteren Aeussergen Köselitzens in seinem Bf. vom 8. Febr. I899

(Eingelegtes, reicht paginiertes Makulaturbl. (14 X 11 cm»

M. Stirner Der Einzige und sein Eigenthum. Leipz. I845 wurde von der Basler Bibliothek entlehnt

1872. 6. Mai v. Prof. Schwarzkopf
1874. 14. Juli v. stud. phil. Baumgartner
1879. 30. Oct. v. Dr. H. Heussler.

Die 2te dieser Entlehngen setzt Nietzsche’s Bekanntschaft mit dem Werk voraus.


* (S. 192) Meine Frau zwar hat Erinnerung an einen Besuch N’s. bei uns im Winter 1878/9, bei welchem er von 2 ihn soeben lebhaft beschäftigenden ganz eigenthümlichen Käuzen gesprochen habe, Klinger (mit seinen Aphorismen) und Stirner. Doch habe er von letzterem nur mit einer sichtlichen Scheu gesprochen und auch nicht ohne Umstände seinen Namen vorgebracht, übrigens beide Leute auch uns zur Kenntnissnahme empfehlend. An diese[r] Scene habe auch ich zwar die lebhafteste Erinnerung, nur dass mir seltsamer Weise alles Stirner Betreffende dabei vollk. entfallen ist, wenigstens der Name. Gewiss ist zB., dass wir damals Klinger’s Aphorismen, und zwar im Exemplar der Lesegesellschaft, in’s Haus geschafft haben, wenn es nicht, worüber ich eine unsichere Erinnerg habe, Nietzsche selbst für uns gethan hat. Von Klinger hatte ich N. übrigens schon früher, irre ich nicht selbst wiederholt sprechen hören. Von dieser von mir also nur zum Theil gedeckten, die Bekanntschft N’s. mit Stirner bezeugenden Erinnerung meiner Frau hatten wir nun einmal mit Joel gesprochen, und auf dieser Mitthlg beruht nun seine nicht ganz discrete, ohne jede Bevollmächtigung unsererseits gethane Aeusserg in der Neuen Dtschen Rdschau, die ich oben S. 1. erwähne. Sie veranlasste dann zwischen mir u. Joel eine lebhafte Correspondenz (März 1899), bei der ich, um meine Frau gegen jeden möglichen Conflict mit Frau Förster zu schützen mein unbedingtes Veto gegen jeden ferneren Gebrauch einlegte. Die »betreffende Persönlichkeit«, von der Frau Förster in der Einltg zu H. Lichten- (S. 193 unten) bergers Die Philos. Fr. Nietzsche’s S: LXVII im Plural spricht, bin ich.

** (S. 193 unten) (und Romundt)] H. ROMUNDT bestätigt in einem Brief an O. vom 13. Aug. 1899, nichts von einer Bekanntschaft FNS mit STIRNER zu wissen (NI I,284).