Helmut Walther (Nürnberg)

Nietzsche als Erzieher

Veröffentlicht in Aufklärung & Ktritik, Sonderheft Nr. 4/2000 "Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag", S. 102-130
Ergänzung vom 07.01.2007 um das Stück Nr. 99 der Fröhlichen Wissenschaft,
in welchem Nietzsche seine veränderte Sicht auf Schopenhauer kommentiert.

Wer je einen Lehrer gefunden hat, der ihm einen Schlüssel für die Entzifferung der eigenen Persönlichkeit in die Hand gedrückt hat, wird diesem gegenüber eine lebenslange Dankbarkeit empfinden, ohne doch immer nur Schüler zu bleiben. Undankbar schiene es mir jedoch, seines ehemaligen Lehrers zu vergessen, nachdem man sich von seiner hilfreichen Hand gelöst hat – selbst wenn man sich gegen ihn zu wenden gezwungen sieht.


Erstausgabe der 3. UZB

Genau in einem solchen Verhältnis sieht sich Nietzsche zu Schopenhauer, der ihm zum beispielgebenden Leitbild wurde, ganz ähnlich wie Sokrates für Platon. Wie letzterer in vielen seiner Dialoge verehrend und dankend seinem Lehrmeister huldigt und doch zugleich über ihn hinausgeht, ebenso ruft Nietzsche immer wieder Schopenhauer als Vorbild auf. Mit ihm geißelt er die Nichtswürdigkeit seiner Zeit, ohne doch bei dessen Nein zu aller scheinhafter Welt stehenzubleiben. Und so ward Nietzsche selbst wiederum ein derartiger Entschlüsseler, wie es viele bedeutende seiner Leser, meist dankbar, bezeigen – um etwa nur Heidegger und Jaspers, Thomas Mann und Gottfried Benn oder Hermann Hesse zu nennen. Mit seiner Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung Schopenhauer als Erzieher löst er seine Dankesschuld ein, indem er selbst zum Lehrer wird. Nietzsche wahrt diese Treue – trotz aller harter Gegnerschaft – auch seinem anderen großen Vorbild, Richard Wagner, gegenüber, wie es der Aphorismus "Sternenfreundschaft" und selbst noch die letzten Schriften zu Wagner bezeugen.

Das Rauschen in den Feuilletons zu seinem 100. Todestag zeigte immer wieder den Zwiespalt auf, vor den sich moderne Rezipienten Nietzsches gestellt sehen – in Vielem ablehnen zu müssen, ohne doch die Faszination damit gänzlich abstreifen zu können. Läßt sich das Abzulehnende relativ leicht konkretisieren, so etwa seine Unethik(1) im Namen des Willens zur Macht; läßt sich auch sein blindes Übergehen der gesellschaftlich bedeutsamen Strömungen seiner Zeit ohne weiteres kritisieren – so ist es doch viel schwieriger, dasjenige in Worte zu fassen, was den Leser an "positiver Wirksamkeit" in seinen Schriften über das Formale hinaus als Faszinosum anspricht.

Richard Rorty benennt das von Nietzsche zu Bewahrende in der ZEIT Nr. 35 vom 24.08.2000 unter dem Titel "Prophet der Vielfalt" so:

"Wir sollten Nietzsches ... Kritik an konventionellen Ideen über die Wahrheit so lesen, als entspränge sie der Hoffnung..., die Freigeisterei und Vielgeisterei des Menschen werde in Zukunft stärker und vollständiger zum Ausdruck kommen. Wir sollten es weder Hitler noch Heidegger überlassen, Nietzsche für uns zu interpretieren. Wir sollten ihn in eigener Regie lesen und unser Möglichstes tun, um die Kleinlichkeit und das Ressentiment zu ignorieren, von denen seine Texte gelegentlich entstellt werden. Und nicht zuletzt sollten wir uns von seiner überschwänglichen Hoffnung auf die Zukunft des Menschen anstecken lassen, von der Hoffnung, die seine Angriffe auf unsere religiöse und philosophische Tradition motivierte."

In ganz ähnlicher Weise stellt Nietzsche selbst in seiner Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung Schopenhauer als Vorbild auf und will für die Lektüre von dessen Werken werben. Bevor wir uns jedoch dieser Schrift näher zuwenden, möchte ich noch auf einige Punkte hinweisen:

Bekanntlich war Nietzsche im Zeitpunkt von deren Abfassung ordentlicher Professor der klassischen Philologie in Basel; all seine bis dahin erfolgten öffentlichen Äußerungen, seien es die Bildungsvorträge bzw. die "Geburt der Tragödie" oder die zwei ersten Unzeitgemäßen Betrachtungen, kamen als merkwürdige Zwitterwesen aus Philologie und Philosophie, Philhellenismus und Kulturkritik daher, was ihm bei seinen Fachkollegen mit der "Geburt der Tragödie" denn auch den Ruf kostete.

Doch dieser Zug zur Philosophie kommt bei Nietzsche durchaus nicht überraschend – und so scheinen hier einige Anmerkungen notwendig, warum er überhaupt die Baseler Professur annahm, die er später niederzulegen gezwungen war. Und wirklich ist es wohl eher einer Ironie des Schicksals zuzuschreiben als einem bewußten Entschluß, daß sich Nietzsche nicht bereits 1869 von der Philologie abwandte; denn mit seinem Freunde Ernst Rohde(2) erwägt er zum Jahreswechsel 1868/69 ernsthaft, "die Philologie dorthin zu werfen, wohin sie gehört, zum Urväter-Hausrath."(3) Zur genau gleichen Zeit, in der Ritschl, sein Leipziger Lehrer und Förderer, ohne Wissen Nietzsches bereits dessen Baseler Professur betreibt und dabei eine lesenswerte Schilderung der damaligen Stellung Nietzsches in Leipzig gibt(4), erwägen die Freunde mehrfach, in Paris naturwissenschaftliche Studien aufzunehmen.(5)

Daß Nietzsche an einem solchen "Schicksalswink" wie dem Angebot der Philologie-Professur ohne vorherige Promotion und Habilitation nicht achtlos vorübergehen konnte, leuchtet von selbst ein; natürlich ließ er die Pariser Pläne fallen, und dies umso mehr, da er seine philosophischen Anliegen aus der damaligen anderen Stellung der Philologie heraus – wie wir gleich sehen werden – auch von dieser meinte her verwirklichen zu können. Plant er doch bereits in Oktober 1867 eine Arbeit über "Schopenhauer als Schriftsteller"(6); und Anfang Juni 1868 schreibt er: "Größere litterarische Arbeiten wachsen in mir von Tag zu Tag, ... indem ich viel für mich über die rechte Methode des Lehrens und Lernens, über das Maß und die Bedürfnisse jetziger Philologie nachdenke."(7)

Wieviel Zu-Fälle werden doch selbst in der Vita eines veritablen Genies wirksam, um es auf seine Bahn zu bringen – was hielt das Jahr 1868 für Nietzsche nicht alles bereit! Etwa um den 18. März herum hatte er sich bei einem Reitunfall eine schwere Brustverletzung zugezogen, die für eine schwächlichere Konstitution durchaus hätte tödlich verlaufen können. Nach "5 Monaten Krankheit und viele[n] langwierige[n] Schmerzen", die schon damals mit Morphium bekämpft werden mußten, schreibt er Anfang August 1868: "...alles dies ist überwunden; eine einzige tiefe mit dem Knochen verwachsene Narbe mitten auf der Brust erinnert mich daran, wie schlimm, ja wie gefährlich mein Zustand war. Wenigstens sagte mir Volkmann [sein Arzt], daß, falls die Eiterung noch länger – sie dauerte ein Vierteljahr – angehalten hätte, voraussichtlich Herz oder Lunge ergriffen worden wären."(8)


Nietzsche als Rekonvaleszent in Halle (Juni 1868)

Übrigens entsteht erst jetzt (August 1868), nach der durch den Unfall bedingten Beendigung des Militärdienstes, jene mehr berüchtigte als berühmte Photographie des säbeltragenden Nietzsche – wie anders jene in der Krankheitszeit im Juni des Jahres in Halle gemachte Aufnahme, die einen gutaussehenden und eleganten Studenten zeigt! Dieser Diskrepanz ist sich Nietzsche selbst bewußt, wenn er anläßlich seines Artilleristenfotos eine Probe seiner Ironie gibt: "Heute folgt eine Photographie, die mich in einer etwas gewagten Situation darstellt. Im Grunde ist es eine Unhöflichkeit, mit gezogenem Säbel vor seine Freunde zu treten [Rohde hatte N. zu einem solchen Photo als Soldat brieflich aufgefordert!], und dazu mit einem so saueren, bitterbösen Gesicht. Es ist etwas Rohes um so einen Krieger. Aber warum ärgert uns der schlechte Photograph, warum ärgert uns der ganze Lebensplunder so, daß wir nicht aussehen wie frische, neugewaschene Mädchen? Warum müssen wir immer mit dem Säbel bereit stehen? Und wenn wir nun energisch dem schlechten Photographen zu Leibe wollen, was macht er? Er kriecht hinter seine Klappe und ruft: ‚Jetzt!‘"(9)


Nietzsche als Soldat (August 1868)

Am 8. November 1868 lernt Nietzsche in Leipzig Richard Wagner kennen – die Bedeutung dieses zufälligen Zusammentreffens für Nietzsche ist genugsam bekannt(10); jedenfalls wird auch dies ihm zum Anlaß, die Baseler Professur als wünschenswert anzunehmen, da sie ihn in die Nähe des verehrten Meisters bringt, der gleich ihm Anhänger der Schopenhauerschen Lehre ist.

Hinzukommt, daß Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Philologie völlig andere Wirkungsmöglichkeiten bot und ein ganz anderes Ansehen genoß als heute, wie W. Most(11) schildert:

"Neuere Forschungen zur Geschichte der Altertumswissenschaft haben in den letzten Jahrzehnten ein neues und in vielerlei Hinsicht überraschendes Bild vermittelt. Überspitzt formuliert: In den Jahrzehnten vor Nietzsches Geburt besaß die klassische Philologie in Deutschland etwa dieselbe Stellung innerhalb der wissenschaftlichen Landschaft wie die Gentechnik heute. Mit einer Mischung aus Neid, Ehrfurcht und Sorge betrachteten die Wissenschaftler anderer Fachgebiete ihre altphilologischen Kollegen als die wichtigsten und angesehensten Grundlagenforscher." ... "Die klassische Philologie damals, wie die Gentechnik heute, wurde ... durch eine grundsätzliche Unsicherheit gekennzeichnet: ob sie sich als reine Erforschung des tatsächlich Gegebenen verstehen sollte oder vielmehr als Versuch, in die kulturelle beziehungsweise genetische Erbschaft des Menschen einzugreifen mit dem erklärten Ziel, die Menschheit selbst zu verbessern." ... "Aus heutiger Sicht ist es eher erstaunlich, daß Nietzsche sich mit leidenschaftlicher Hingabe und unermüdlicher Energie einem Wissenschaftsideal verschrieb, zu einem Zeitpunkt, als die Führungsrolle der deutschen Altertumswissenschaft längst nicht mehr selbstverständlich war, sondern sie tiefen Zweifeln und Selbstzweifeln ausgesetzt war. Aus dieser unbewußten Unzeitgemäßheit entstand unvermeidbar ein wachsendes Unbehagen, das bewirkte, daß Nietzsche sich zunächst allmählich von seinem Fach entfernte, dann aber drastisch und definitiv mit ihm brach. In der Abwendung von seiner beispiellos erfolgreichen Gelehrtenkarriere drückte sich nicht nur ein persönliches Schicksal aus, sondern auch das unaufhaltsame Scheitern eines ganzen Bildungs- und Kulturprogramms."

Die Enttäuschung über die Rolle und die Möglichkeiten der Philologie bietet so einen heute meist nicht wahrgenommenen objektiven Hintergrund für die individuell-subjektive Abkehr Nietzsches von der zunächst so hochgeschätzten Philologie – deren Einflußmöglichkeiten er offenbar zunächst, wie es sich denn ja auch aus seinen frühen Bildungsvorträgen ergibt, überschätzt hatte.

Aus diesem früheren großen Einfluß der Philologie heraus stand sie aber auch notwendig in einem engeren Zusammenhang mit der Philosophie als heute – mit der Restauration der altgriechischen philosophischen Texte sollte nicht nur eine optimale Textfassung hergestellt werden; vielmehr sollte sich die Wirkung der Philologie aus den Inhalten dieser Texte ergeben, und diese waren vor allem philosophischer Natur. Nietzsche selbst will die Schriften der griechischen Autoren denn auch für seine eigene Gegenwart fruchtbar machen, sei es auf dem Pädagogium, wo er Griechisch zu geben hatte, sei es in seinen Vorlesungen und Seminaren, sei es in seinen Bildungsvorträgen vor großem Baseler Auditorium.

Zur Abfassung seiner Vorlesungen bediente sich auch Nietzsche natürlich vorhandener Quellen – und so läßt sich an Vorlesungsnachschriften die Herkunft so manches seiner Gedanken zeigen, die dann insbesondere auch für seine philosophischen Thesen von Bedeutung sind. Hierzu sei ein Beispiel von W. Most(12) angeführt:

"Nietzsche hielt im Wintersemester 1872/73 Vorlesungen über die antike Rhetorik vor genau zwei Studenten, einem Germanisten und einem Juristen.(13) Viele Jahre später beschrieb letzterer sein Erlebnis begeistert und plastisch: ‚So versammelte uns dieses Colleg dreimal die Woche in seinem [d.h. Nietzsches] traulich-eleganten Heim in einer Abendstunde, wo wir bei Lampenschein ihm zuhörten und die aus einem in weiches rotes Leder gebundenen Hefte diktierten Sätze niederschrieben. Auch hier hielt er im Vortrage oft inne, sei es um selbst nachzudenken, sei es um uns Zeit zu geben, das Gehörte einigermassen innerlich zu verarbeiten. Auch hatte er die Liebenswürdigkeit, uns gelegentlich Bier – Culmbacher – als Erfrischung anzubieten, wobei er selbst solches aus einer silbernen Schale zu trinken pflegte.‘ Diese Vorlesung wurde erst 1912 aus dem Nachlaß unvollständig und eher schlecht ediert und blieb fast sechzig Jahre unbeachtet, bis französische Poststrukturalisten sie entdeckten. Danach sorgten Nietzsches darin geäußerte und nunmehr ins Französische übersetzte radikale Theorien über die Sprache als Rhetorik und über die Theorie der Metapher und anderer Figuren für viel Furore unter Dekonstruktivisten auf beiden Seiten des Atlantiks. Philippe Lacoue-Labarthe, Jacques Derrida, Paul de Man und viele weniger namhafte Literaturtheoretiker analysierten scharfsinnig die Einzelheiten seiner Auffassungen und leiteten daraus weitreichende Konsequenzen ab. Aber inwiefern handelte es sich dabei um Auffassungen Nietzsches? Eine genaue Analyse der Quellen einiger Kapitel, die ich gemeinsam mit dem Zürcher Komparatisten Thomas Fries vorgenommen habe, konnte die gelegentlich geäußerten Vermutungen früherer Gelehrter bestätigen und beweisen, daß zumindest in den untersuchten Stichproben beinahe der ganze ‚Nietzsche'-Text aus kollageartig zusammengesetzten Zitaten und Exzerpten damaliger Nachschlagewerke besteht. Anthonie Meijers und Martin Stingelin belegen in ‚Nietzsche-Studien 17‘ die Übernahmen aus Gustav Gerber ‚Die Sprache als Kunst‘: ‚nicht die Dinge treten in's Bewußtsein, sondern die Art, wie wir zu ihnen stehen, je nach den einzelnen Lebensmomenten, in denen wir zu ihnen in Beziehung treten. Das ganze und volle Wesen der Dinge wird selbst nach dieser Seite, nach welcher sie eine Einwirkung auf uns ausüben, niemals in einem Blicke von uns erfasst.‘ (I, 169) Friedrich Nietzsche: ‚Nicht die Dinge treten ins Bewußtsein, sondern die Art, wie wir zu ihnen stehen.... Das volle Wesen der Dinge wird nie erfasst.‘

... Was als Nietzsches Behauptungen die französischen Literaturtheoretiker in Erstaunen versetzte, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als vereinfachte, verkürzte – und gerade dadurch oft radikalisierte – Äußerungen heute fast völlig in Vergessenheit geratener Sprachwissenschaftler und Philologen des 19. Jahrhunderts. Heißt das nun einerseits, Nietzsche hätte plagiiert? Nein, Nietzsche ist ebensowenig ein Plagiator wie heutzutage der gewissenhafte Professor, der seine eigenen Vorlesungsstunden mit der Darlegung der Ergebnisse der neueren Forschungen ausfüllt."

Im Jahre 1873 verfertigte Nietzsche seine Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne – und deren zentrale These deckt sich so ziemlich mit der oben angeführten Aussage Gerbers:

"Das ‚Ding an sich‘ (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit sein) ist auch dem Sprachbildner ganz unfaßlich und ganz und gar nicht erstrebenswerth. Er bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hülfe. Ein Nervenreiz, zuerst übertragen in ein Bild! Erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einen Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Überspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andre und neue."(14)

Nietzsche nimmt in dieser Schrift jenen Gedanken Gerbers auf und formt ihn aus und um, und er zieht vor allem die Konsequenzen daraus für den Wahrheitsbegriff wie auch für die Existenz des Menschen – und so geht er weit über Gerber hinaus, wenn dieser ihm sicherlich damit auch eine der Grundlagen für seinen späteren Polyperspektivismus geliefert hat.

Wir sehen hier zwei parallele Entwicklungen bei Nietzsche vor uns: einmal aus Zeit und Beruf herkommend versteht er sich mit der Philologie als Kritiker der herrschenden Kultur unter Zugrundelegung des griechischen Gedankenguts – gleichzeitig aber hat er mit der Kenntnisnahme des Materialismus (Feuerbach!(15)), vermittelt durch Friedrich Albert Lange, und in der Aufnahme der Konsequenzen aus der Kantschen Philosophie deren Boden längst verlassen, sich vom Idealismus, der sich von Platon bis Hegel spannt, abgewandt. Von daher ist er sich bewußt, daß die Philosophie ein neues Fundament braucht, und so kämpft er seither an zwei Fronten: Kritik am idealistischen Fortschrittsoptimismus der eigenen Zeit und gleichzeitig der Versuch, die Frage nach dem Wesen des Menschen neu zu beantworten. Beide Ansatzpunkte schließen sich zuletzt zusammen in der Bestimmung dessen, was denn der Mensch sein sollte.


Nietzsche 1874 in Basel

Mit der mit "Schopenhauer als Erzieher"(16) betitelten Betrachtung von 1874 führt Nietzsche seine Baseler Kulturkritik fort, und so ist in ihr nur vordergründig von Schopenhauers Person die Rede – und von dessen Lehre überhaupt nicht: Wie Nietzsche später selbst bestätigt, spricht er, wie übrigens in all seinen Werken, grundsätzlich von sich selbst, beschreibt er die Wirkungen, welche die Philosophie Schopenhauers auf ihn ausübte. Dieser dient ihm als positives Leitbild, wie in umgekehrter Weise David Friedrich Strauß in der Ersten Unzeitgemäßen Betrachtung als Negativbeispiel herhalten muß, ohne daß damit letztlich die Person von Strauß gemeint war – beide werden von Nietzsche als Stellvertreter bestimmter Positionen verwendet, mit denen sich Nietzsche in seiner Weise auseinandersetzt. Mit Schopenhauer und dessen metaphysischer Willensphilosophie(17) sah sich Nietzsche insbesondere vor das Fragmal des "Werde, der du bist" gestellt(18), und deshalb blieb er ihm zeitlebens trotz aller Abwendung und Entgegensetzung der verehrte Lehrer. Nietzsche selbst in einem Brief an Paul Deussen vom Juli 1877: "Schon als ich meine kleine Schrift über Sch[openhauer] schrieb, hielt ich von allen dogmatischen Puncten fast nichts mehr fest; glaube aber jetzt noch wie damals, dass es einstweilen höchst wesentlich ist, durch Schopenhauer hindurch zu gehen und ihn als Erzieher zu benutzen. Nur glaube ich nicht mehr, dass er zur Schopenhauerschen Philosophie erziehen soll." (KSB, 5, Nr. 642, S. 264 f.)

Jede "ansprechende" Philosophie(19) geht von einem solchen Fragmal aus: das delphische "gnoti se auton", das sokratische "daimonion", das skeptische "omnia dubitare", das epikuräische "lathe biosa", die Entscheidungsfrage nach dem Tod und der "ewigen Seligkeit" bei Pascal ebenso wie der "Begriff Angst" Kierkegaards mit dem Fragmal des in Gleichzeitigkeit auf Erden wallenden Gottes oder selbst noch das "Sapere aude!"(20) Kants. Und so stehen auch bei Nietzsche die entscheidenden Sätze seiner Schrift bereits in der Vorrede zur 3. Unzeitgemäßen:

"Wenn der große Denker die Menschen verachtet, so verachtet er ihre Faulheit: denn ihrethalben erscheinen sie als Fabrikware, als gleichgültig, des Verkehrs und der Belehrung unwürdig. Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm zuruft: ‚sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt tust, meinst, begehrst.‘"(21)

"Niemand kann dir die Brücke bauen, auf der gerade du über den Fluß des Lebens schreiten mußt, niemand außer dir allein. Zwar gibt es zahllose Pfade und Brücken und Halbgötter, die dich durch den Fluß tragen wollen; aber nur um den Preis deiner selbst: du würdest dich verpfänden und verlieren. Es gibt in der Welt einen einzigen Weg, auf welchem niemand gehen kann außer dir: wohin er führt? Frage nicht, gehe ihn. ...

Aber wie finden wir uns selbst wieder? Wie kann sich der Mensch kennen? Er ist eine dunkle und verhüllte Sache; und wenn der Hase sieben Häute hat, so kann der Mensch sich sieben mal siebzig abziehn und wird noch nicht sagen können: ‚das bist du nun wirklich, das ist nicht mehr Schale‘. Zudem ist es ein quälerisches, gefährliches Beginnen, sich selbst derartig anzugraben und in den Schacht seines Wesens auf dem nächsten Wege gewaltsam hinabzusteigen."

Und schon in der Vorrede gibt Nietzsche sein Rezept, wie erste Schritte auf diesem ungekannten Weg denn aussehen könnten:

"Die junge Seele sehe auf das Leben zurück mit der Frage: was hast du bis jetzt wahrhaft geliebt, was hat deine Seele hinangezogen, was hat sie beherrscht und zugleich beglückt? Stelle dir die Reihe dieser verehrten Gegenstände vor dir auf, und vielleicht ergeben sie dir, durch ihr Wesen und ihre Folge, ein Gesetz, das Grundgesetz deines eigentlichen Selbst. Vergleiche diese Gegenstände, sieh, wie einer den andern ergänzt, erweitert, überbietet, erklärt, wie sie eine Stufenleiter bilden, auf welcher du bis jetzt zu dir selbst hingeklettert bist; denn dein wahres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, sondern unermeßlich hoch über dir, oder wenigstens über dem, was du gewöhnlich als dein Ich nimmst. Deine wahren Erzieher und Bildner verraten dir, was der wahre Ursinn und Grundstoff deines Wesens ist, etwas durchaus Unerziehbares und Unbildbares, aber jedenfalls schwer Zugängliches, Gebundenes, Gelähmtes – deine Erzieher vermögen nichts zu sein als deine Befreier. ... Gewiß, es gibt wohl andre Mittel, sich zu finden, aus der Betäubung, in welcher man gewöhnlich wie in einer trüben Wolke webt, zu sich zu kommen, aber ich weiß kein besseres, als sich auf seine Erzieher und Bildner zu besinnen. Und so will ich denn heute des einen Lehrers und Zuchtmeisters, dessen ich mich zu rühmen habe, eingedenk sein, Arthur Schopenhauers..."

Anschließend beleuchtet er die seinerzeit "modernen" Bildungszustände, deren Kritik in vielem auch heute noch gültig ist, um sodann seine Diagnose abzugeben:

"Die Erklärung dieser Mattherzigkeit und des niedrigen Flutstandes aller sittlichen Kräfte ist schwer und verwickelt; doch wird niemand, der den Einfluß des siegenden Christentums auf die Sittlichkeit unsrer alten Welt in Betracht nimmt, auch die Rückwirkung des unterliegenden Christentums, also sein immer wahrscheinlicheres Los in unserer Zeit, übersehen dürfen. Das Christentum hat durch die Höhe seines Ideals die antiken Moralsysteme und die in allen gleichmäßig waltende Natürlichkeit so überboten, daß man gegen diese Natürlichkeit stumpf und ekel wurde; hinterdrein aber, als man das Bessere und Höhere zwar noch erkannte, aber nicht mehr vermochte, konnte man zum Guten und Hohen, nämlich zu jener antiken Tugend, nicht mehr zurück, so sehr man es auch wollte. In diesem Hin und Her zwischen Christlich und Antik, zwischen verschüchterter oder lügnerischer Christlichkeit der Sitte und ebenfalls mutlosem und befangenem Antikisieren lebt der moderne Mensch und befindet sich schlecht dabei. ..."

"Es heißt also wirklich in seinen Wünschen ausschweifen, wenn ich mir vorstellte, ich möchte einen wahren Philosophen als Erzieher finden, welcher einen über das Ungenügen, soweit es in der Zeit liegt, hinausheben könnte und wieder lehrte, einfach und ehrlich, im Denken und Leben, also unzeitgemäß zu sein, das Wort im tiefsten Verstande genommen; denn die Menschen sind jetzt so vielfach und kompliziert geworden, daß sie unehrlich werden müssen, wenn sie überhaupt reden, Behauptungen aufstellen und danach handeln wollen.

In solchen Nöten, Bedürfnissen und Wünschen lernte ich Schopenhauer kennen."

Nietzsche diagnostiziert damit zu Recht das Schwanken des Menschen zwischen seiner Natur und seiner Kultur, in meinen Worten, zwischen den unterschiedlichen Zielsetzungen seiner Empfindungen, seines Verstandes und seiner Vernunft – er will aus deren Zwiespalt heraus in eine neue "Einfachheit". Diesen Weg aber kann nur die Philosophie bahnen, und so wirft er seinen Blick auf die zeitgenössische Weise des Philosophierens:

"Die ‚Wahrheit‘ aber, von welcher unsre Professoren so viel reden, scheint freilich ein anspruchsloseres Wesen zu sein, von dem keine Unordnung und Ausserordnung zu befürchten ist: ein bequemes und gemüthliches Geschöpf, welches allen bestehenden Gewalten wieder und wieder versichert, niemand solle ihrethalben irgend welche Umstände haben; man sei ja nur ‚reine Wissenschaft‘. Also: ich wollte sagen, dass die Philosophie in Deutschland es mehr und mehr zu verlernen hat, ‚reine Wissenschaft‘ zu sein: und das gerade sei das Beispiel des Menschen Schopenhauer."

Er weiß darum, daß neue Wahrheiten nie mit der Macht und mit der Masse, sondern immer nur gegen diese erworben werden – Unbeliebtheit und Vereinsamung sind das zu akzeptierende Los solcher Einzelner, wie es etwa Hölderlin und Kleist erfahren mußten:

"Doch giebt es immer wieder einen Halbgott, der es erträgt, unter so schrecklichen Bedingungen zu leben, siegreich zu leben; und wenn ihr seine einsamen Gesänge hören wollt, so hört Beethoven’s Musik.

Das war die erste Gefahr, in deren Schatten Schopenhauer heranwuchs: Vereinsamung. Die zweite heisst: Verzweiflung an der Wahrheit. Diese Gefahr begleitet jeden Denker, welcher von der Kantischen Philosophie aus seinen Weg nimmt, vorausgesetzt dass er ein kräftiger und ganzer Mensch in Leiden und Begehren sei und nicht nur eine klappernde Denk- und Rechenmaschine. Nun ... scheint mir, als ob überhaupt nur bei den wenigsten Menschen Kant lebendig eingegriffen und Blut und Säfte umgestaltet habe. Zwar soll, wie man überall lesen kann, seit der That dieses stillen Gelehrten auf allen geistigen Gebieten eine Revolution ausgebrochen sein; aber ich kann es nicht glauben. Denn ich sehe es den Menschen nicht deutlich an, als welche vor Allem selbst revolutionirt sein müssten, bevor irgend welche ganze Gebiete es sein könnten. Sobald aber Kant anfangen sollte, eine populäre Wirkung auszuüben, so werden wir diese in der Form eines zernagenden und zerbröckelnden Skepticismus und Relativismus gewahr werden; und nur bei den thätigsten und edelsten Geistern, die es niemals im Zweifel ausgehalten haben, würde an seiner Stelle jene Erschütterung und Verzweiflung an aller Wahrheit eintreten, wie sie zum Beispiel Heinrich von Kleist als Wirkung der Kantischen Philosophie erlebte."

Nun, heute sind diese relativierenden Wirkungen, die bei Kant ihren Ausgang nahmen, wohl Wirklichkeit geworden: selten wurde der Skeptizismus so positiv bewertet wie heute, und das "Anything goes" von Paul Feyerabend erfreut sich derartiger Popularität, daß es sich die Jugend als Motto auf die Hemdbrust bügelt. Der "Pluralismus" (den Nietzsche individuell im Polyperspektivismus durchdenkt), ein sicherlich notwendiges Stadium, wird zum Ziel erhoben, weil es an der Kraft fehlt, die menschliche Existenz als Ganzes zu sehen:

"Das ist seine [Schopenhauers] Grösse, dass er dem Bilde des Lebens als einem Ganzen sich gegenüberstellte, um es als Ganzes zu deuten; während die scharfsinnigsten Köpfe nicht von dem Irrthum zu befreien sind, dass man dieser Deutung näher komme, wenn man die Farben, womit, den Stoff, worauf dieses Bild gemalt ist, peinlich untersuche; vielleicht mit dem Ergebniss, es sei eine ganz intrikat gesponnene Leinewand und Farben darauf, die chemisch unergründlich seien. Man muss den Maler errathen, um das Bild zu verstehen, – das wusste Schopenhauer. Nun ist aber die ganze Zunft aller Wissenschaften darauf aus, jene Leinewand und jene Farben, aber nicht das Bild zu verstehen; ja man kann sagen, dass nur der, welcher das allgemeine Gemälde des Lebens und Daseins fest in's Auge gefasst hat, sich der einzelnen Wissenschaften ohne eigene Schädigung bedienen wird, denn ohne ein solches regulatives Gesammtbild sind sie Stricke, die nirgends an’s Ende führen und unsern Lebenslauf nur noch verwirrter und labyrinthischer machen."

Aus dieser berechtigten Kritik an der Nahperspektive einer rein wissenschaftlichen Haltung zieht Nietzsche mit Schopenhauer den Schluß auf die Notwendigkeit des "Genius", der "dem Leben" seinen Sinn und seine "Heiligkeit" verbürge:

"Jeder Mensch pflegt in sich eine Begrenztheit vorzufinden, seiner Begabung sowohl als seines sittlichen Wollens, welche ihn mit Sehnsucht und Melancholie erfüllt; und wie er aus dem Gefühl seiner Sündhaftigkeit sich hin nach dem Heiligen sehnt, so trägt er, als intellectuelles Wesen, ein tiefes Verlangen nach dem Genius in sich. ... Wo wir Begabung ohne jene Sehnsucht finden, im Kreise der Gelehrten oder auch bei den sogenannten Gebildeten, macht sie uns Widerwillen und Ekel; denn wir ahnen, dass solche Menschen, mit allem ihrem Geiste, eine werdende Cultur und die Erzeugung des Genius – das heisst das Ziel aller Cultur – nicht fördern, sondern verhindern. Es ist der Zustand einer Verhärtung, im Werthe gleich jener gewohnheitsmässigen, kalten und auf sich selbst stolzen Tugendhaftigkeit, welche auch am weitesten von der wahren Heiligkeit entfernt ist und fern hält."

Neben diesen Gefahren, denen das Individuum selbst ausgesetzt ist:

  • das sich Verlieren in den normalen Schätzungen ("Faulheit") und die aus deren Ablehnung folgende Einsamkeit
  • das Hängenbleiben in der "reinen Wissenschaft"
  • das Loslassen des Ideals und daraus folgende innerlich-sittliche Verhärtung

wirken auf jeden Einzelnen ebenso wie auf Schopenhauer Gefahren aus seiner eigenen Zeit ein, dies umso mehr, als je "tiefstehender" bzw. "enger" die je eigene Zeit gegenüber anderen, etwa der griechischen Antike, gesehen wird:

"Die Sehnsucht nach starker Natur, nach gesunder und einfacher Menschheit war bei ihm eine Sehnsucht nach sich selbst; und sobald er die Zeit in sich besiegt hatte, musste er auch, mit erstauntem Auge, den Genius in sich erblicken. ... Wenn er jetzt nun sein furchtloses Auge der Frage zuwandte: ‚was ist das Leben überhaupt werth?‘ so hatte er nicht mehr eine verworrene und abgeblasste Zeit und deren heuchlerisch unklares Leben zu verurtheilen. Er wusste es wohl, dass noch Höheres und Reineres auf dieser Erde zu finden und zu erreichen sei als solch ein zeitgemässes Leben, und dass Jeder dem Dasein bitter Unrecht thue, der es nur nach dieser hässlichen Gestalt kenne und abschätze. Nein, der Genius selbst wird jetzt aufgerufen, um zu hören, ob dieser, die höchste Frucht des Lebens, vielleicht das Leben überhaupt rechtfertigen könne; der herrliche schöpferische Mensch soll auf die Frage antworten: ‚bejahst denn du im tiefsten Herzen dieses Dasein? Genügt es dir? Willst du sein Fürsprecher, sein Erlöser sein? Denn nur ein einziges wahrhaftiges Ja! aus deinem Munde – und das so schwer verklagte Leben soll frei sein‘. –"

Hier eine der deutlichsten Stellen, wie Nietzsche unversehens selbst in die Rolle seines Lehrers schlüpft: er wandelt dessen Willen zum Nein um in sein eigenes "Großes Ja", schon hier klingt jene Haltung an, die er in der Fröhlichen Wissenschaft als amor fati bezeichnen wird – im Gegensatz zu Schopenhauer.

Zugleich sich die Schopenhauersche Kritik an Hegel insbesondere an dessen Staatsphilosophie zu eigen machend kritisiert Nietzsche seine eigene Zeit:

"Jede Philosophie, welche durch ein politisches Ereigniss das Problem des Daseins verrückt oder gar gelöst glaubt, ist eine Spaass- und Afterphilosophie. Es sind schon öfter, seit die Welt steht, Staaten gegründet worden; das ist ein altes Stück. Wie sollte eine politische Neuerung ausreichen, um die Menschen ein für alle Mal zu vergnügten Erdenbewohnern zu machen? Glaubt aber jemand recht von Herzen, dass dies möglich sei, so soll er sich nur melden: denn er verdient wahrhaftig, Professor der Philosophie an einer deutschen Universität ... zu werden.

Hier erleben wir aber die Folgen jener neuerdings von allen Dächern gepredigten Lehre, dass der Staat das höchste Ziel der Menschheit sei, und dass es für einen Mann keine höheren Pflichten gebe, als dem Staate zu dienen: worin ich nicht einen Rückfall in’s Heidenthum, sondern in die Dummheit erkenne. Es mag sein, dass ein solcher Mann, der im Staatsdienste seine höchste Pflicht sieht, wirklich auch keine höheren Pflichten kennt; aber deshalb giebt es jenseits doch noch Männer und Pflichten – und eine dieser Pflichten, die mir wenigstens höher gilt als der Staatsdienst, fordert auf, die Dummheit in jeder Gestalt zu zerstören, also auch diese Dummheit. ... Wie sieht nun der Philosoph die Cultur in unserer Zeit an? Sehr anders freilich als jene in ihrem Staat vergnügten Philosophieprofessoren. Fast ist es ihm, als ob er die Symptome einer völligen Ausrottung und Entwurzelung der Cultur wahrnähme, wenn er an die allgemeine Hast und zunehmende Fallgeschwindigkeit, an das Aufhören aller Beschaulichkeit und Simplicität denkt. Die Gewässer der Religion fluthen ab und lassen Sümpfe oder Weiher zurück; die Nationen trennen sich wieder auf das feindseligste und begehren sich zu zerfleischen. Die Wissenschaften, ohne jedes Maass und im blindesten laisser faire betrieben, zersplittern und lösen alles Festgeglaubte auf; die gebildeten Stände und Staaten werden von einer grossartig verächtlichen Geldwirthschaft fortgerissen. Niemals war die Welt mehr Welt, nie ärmer an Liebe und Güte. Die gelehrten Stände sind nicht mehr Leuchtthürme oder Asyle inmitten aller dieser Unruhe der Verweltlichung; sie selbst werden täglich unruhiger, gedanken- und liebeloser. Alles dient der kommenden Barbarei, die jetzige Kunst und Wissenschaft mit einbegriffen. ...

Wenn es aber einseitig sein sollte, nur die Schwäche der Linien und die Stumpfheit der Farben am Bilde des modernen Lebens hervorzuheben, so ist jedenfalls die zweite Seite um nichts erfreulicher, sondern nur um so beunruhigender. Es sind gewiss Kräfte da, ungeheure Kräfte, aber wilde, ursprüngliche und ganz und gar unbarmherzige. Man sieht mit banger Erwartung auf sie hin wie in den Braukessel einer Hexenküche: es kann jeden Augenblick zucken und blitzen, schreckliche Erscheinungen anzukündigen. ... Dass die Einzelnen sich so gebärden, als ob sie von allen diesen Besorgnissen nichts wüssten, macht uns nicht irre: ihre Unruhe zeigt es, wie gut sie davon wissen; sie denken mit einer Hast und Ausschliesslichkeit an sich, wie noch nie Menschen an sich gedacht haben, sie bauen und pflanzen für ihren Tag, und die Jagd nach Glück wird nie grösser sein als wenn es zwischen heute und morgen erhascht werden muss: weil übermorgen vielleicht überhaupt alle Jagdzeit zu Ende ist. Wir leben die Periode der Atome, des atomistischen Chaos. ...

Es giebt drei Bilder des Menschen, welche unsre neuere Zeit hinter einander aufgestellt hat und aus deren Anblick die Sterblichen wohl noch für lange den Antrieb zu einer Verklärung ihres eignen Lebens nehmen werden: das ist der Mensch Rousseau’s, der Mensch Goethe’s und endlich der Mensch Schopenhauer’s. Von diesen hat das erste Bild das grösste Feuer und ist der populärsten Wirkung gewiss; das zweite ist nur für wenige gemacht, nämlich für die, welche beschauliche Naturen im grossen Stile sind und wird von der Menge missverstanden. Das dritte fordert die thätigsten Menschen als seine Betrachter: nur diese werden es ohne Schaden ansehen; denn die Beschaulichen erschlafft es und die Menge schreckt es ab. Von dem ersten ist eine Kraft ausgegangen, welche zu ungestümen Revolutionen drängte und noch drängt; denn bei allen socialistischen Erzitterungen und Erdbeben ist es immer noch der Mensch Rousseau’s, welcher sich, wie der alte Typhon unter dem Aetna, bewegt. Gedrückt und halb zerquetscht durch hochmüthige Kasten, erbarmungslosen Reichthum, durch Priester und schlechte Erziehung verderbt und vor sich selbst durch lächerliche Sitten beschämt, ruft der Mensch in seiner Noth die ‚heilige Natur‘ an und ... und schreit nach Licht, Sonne, Wald und Fels. Und wenn er ruft: ‚nur die Natur ist gut, nur der natürliche Mensch ist menschlich‘, so verachtet er sich und sehnt sich über sich selbst hinaus: eine Stimmung, in welcher die Seele zu furchtbaren Entschlüssen bereit ist, aber auch das Edelste und Seltenste aus ihren Tiefen herauf ruft.

Der Mensch Goethe’s ist keine so bedrohliche Macht, ja in einem gewissen Verstande sogar das Correctiv und Quietiv gerade jener gefährlichen Aufregungen, denen der Mensch Rousseau’s preisgegeben ist. ... er hasst jedes Gewaltsame, jeden Sprung – das heisst aber: jede That; und so wird aus dem Weltbefreier Faust gleichsam nur ein Weltreisender. Alle Reiche des Lebens und der Natur, alle Vergangenheiten, Künste, Mythologien, alle Wissenschaften sehen den unersättlichen Beschauer an sich vorüberfliegen, das tiefste Begehren wird aufgeregt und beschwichtigt, selbst Helena hält ihn nicht länger – und nun muss der Augenblick kommen, auf den sein höhnischer Begleiter lauert. An einer beliebigen Stelle der Erde endet der Flug, die Schwingen fallen herab, Mephistopheles ist bei der Hand. Wenn der Deutsche aufhört, Faust zu sein, ist keine Gefahr grösser als die, dass er ein Philister werde und dem Teufel verfalle – nur himmlische Mächte können ihn hiervon erlösen. ...

Also, unverhohlen gesprochen: es ist nöthig, dass wir einmal recht böse werden, damit es besser wird. Und hierzu soll uns das Bild des Schopenhauerischen Menschen ermuthigen. Der Schopenhauerische Mensch nimmt das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich, und dieses Leiden dient ihm, seinen Eigenwillen zu ertödten und jene völlige Umwälzung und Umkehrung seines Wesens vorzubereiten, zu der zu führen der eigentliche Sinn des Lebens ist. Dieses Heraussagen des Wahren erscheint den andern Menschen als Ausfluss der Bosheit, denn sie halten die Conservirung ihrer Halbheiten und Flausen für eine Pflicht der Menschlichkeit und meinen, man müsse böse sein, um ihnen also ihr Spielwerk zu zerstören. ... Aber es giebt eine Art zu verneinen und zu zerstören, welche gerade der Ausfluss jener mächtigen Sehnsucht nach Heiligung und Errettung ist, als deren erster philosophischer Lehrer Schopenhauer unter uns entheiligte und recht eigentlich verweltlichte Menschen trat. Alles Dasein, welches verneint werden kann, verdient es auch, verneint zu werden; und wahrhaftig sein heisst an ein Dasein glauben, welches überhaupt nicht verneint werden könnte und welches selber wahr und ohne Lüge ist. Deshalb empfindet der Wahrhaftige den Sinn seiner Thätigkeit als einen metaphysischen, aus Gesetzen eines andern und höhern Lebens erklärbaren und im tiefsten Verstande bejahenden: so sehr auch alles, was er thut, als ein Zerstören und Zerbrechen der Gesetze dieses Lebens erscheint. Dabei muss sein Thun zu einem andauernden Leiden werden, aber er weiss, was auch Meister Eckhard weiss: ‚das schnellste Thier, das euch trägt zur Vollkommenheit, ist Leiden‘. Ich sollte denken, es müsste jedem, der sich eine solche Lebensrichtung vor die Seele stellt, das Herz weit werden und in ihm ein heisses Verlangen entstehen, ein solcher Schopenhauerischer Mensch zu sein: also für sich und sein persönliches Wohl rein und von wundersamer Gelassenheit, in seinem Erkennen voll starken verzehrenden Feuers und weit entfernt von der kalten und verächtlichen Neutralität des sogenannten wissenschaftlichen Menschen."

Es ist der heroische Genius, der alles Bestehende verneint, im Gegensatz zu Schopenhauer führt diese Verneinung aber nicht zu einer Abtötung des Willens, sondern zur eigentlichen Tätigkeit: den zerstreuten und unfertigen Menschen zu dem Ziele zu führen, das Natur mit ihm im Sinn hat:

"Wo hört das Thier auf, wo fängt der Mensch an? Jener Mensch, an dem allein der Natur gelegen ist! So lange jemand nach dem Leben wie nach einem Glücke verlangt, hat er den Blick noch nicht über den Horizont des Thieres hinausgehoben, nur dass er mit mehr Bewusstsein will, was das Thier im blinden Drange sucht. Aber so geht es uns Allen, den grössten Theil des Lebens hindurch: wir kommen für gewöhnlich aus der Thierheit nicht heraus, wir selbst sind die Thiere, die sinnlos zu leiden scheinen.

Aber es giebt Augenblicke, wo wir dies begreifen: dann zerreissen die Wolken, und wir sehen, wie wir sammt aller Natur uns zum Menschen hindrängen, als zu einem Etwas, das hoch über uns steht."

"Wir wissen es Alle in einzelnen Augenblicken, wie die weitläuftigsten Anstalten unseres Lebens nur gemacht werden, um vor unserer eigentlichen Aufgabe zu fliehen, wie wir gerne irgendwo unser Haupt verstecken möchten, als ob uns dort unser hundertäugiges Gewissen nicht erhaschen könnte, wie wir unser Herz an den Staat, den Geldgewinn, die Geselligkeit oder die Wissenschaft hastig wegschenken, bloss um es nicht mehr zu besitzen, wie wir selbst der schweren Tagesarbeit hitziger und besinnungsloser fröhnen, als nöthig wäre um zu leben: weil es uns nöthiger scheint, nicht zur Besinnung zu kommen. Allgemein ist die Hast, weil jeder auf der Flucht vor sich selbst ist, allgemein auch das scheue Verbergen dieser Hast, weil man zufrieden scheinen will und die scharfsichtigeren Zuschauer über sein Elend täuschen möchte, allgemein das Bedürfniss nach neuen klingenden Wort-Schellen, mit denen behängt das Leben etwas Lärmend-Festliches bekommen soll."

Wer allein kann nach Nietzsches Meinung in dieser Situation helfen?

"Das sind jene wahrhaften Menschen, jene Nichtmehr-Thiere, die Philosophen, Künstler und Heiligen(22); bei ihrem Erscheinen und durch ihr Erscheinen macht die Natur, die nie springt, ihren einzigen Sprung und zwar einen Freudesprung, denn sie fühlt sich zum ersten Male am Ziele, dort nämlich, wo sie begreift, dass sie verlernen müsse, Ziele zu haben und dass sie das Spiel des Lebens und Werdens zu hoch gespielt habe. Sie verklärt sich bei dieser Erkenntniss, und eine milde Abendmüdigkeit, das, was die Menschen ‚die Schönheit‘ nennen, ruht auf ihrem Gesichte. Was sie jetzt, mit diesen verklärten Mienen ausspricht, das ist die grosse Aufklärung über das Dasein; und der höchste Wunsch, den Sterbliche wünschen können, ist, andauernd und offnen Ohr’s an dieser Aufklärung theilzunehmen."

Deutlich zu sehen ist hier der "Große Mittag" und der "Übermensch" des Zarathustra bereits vorgeprägt. Und seinen Mitbürgern, denen er erbarmungslos den Spiegel vorhält – später die "letzten Menschen" geheißen – wird hier schon ihre Aufgabe zugewiesen:

"Jene neuen Pflichten sind nicht die Pflichten eines Vereinsamten, man gehört vielmehr mit ihnen in eine mächtige Gemeinsamkeit hinein, welche zwar nicht durch äusserliche Formen und Gesetze, aber wohl durch einen Grundgedanken zusammengehalten wird. Es ist dies der Grundgedanke der Kultur, in sofern diese jedem Einzelnen von uns nur Eine Aufgabe zu stellen weiss: die Erzeugung des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen in uns und ausser uns zu fördern und dadurch an der Vollendung der Natur zu arbeiten. Denn wie die Natur des Philosophen bedarf, so bedarf sie des Künstlers, zu einem metaphysischen Zwecke, nämlich zu ihrer eignen Aufklärung über sich selbst, damit ihr endlich einmal als reines und fertiges Gebilde entgegengestellt werde, was sie in der Unruhe ihres Werdens nie deutlich zu sehen bekommt – also zu ihrer Selbsterkenntniss. ... Und so bedarf die Natur zuletzt des Heiligen, an dem das Ich ganz zusammengeschmolzen ist und dessen leidendes Leben nicht oder fast nicht mehr individuell empfunden wird, sondern als tiefstes Gleich- Mit- und Eins-Gefühl in allem Lebendigen: des Heiligen, an dem jenes Wunder der Verwandlung eintritt, auf welches das Spiel des Werdens nie verfällt, jene endliche und höchste Menschwerdung, nach welcher alle Natur hindrängt und -treibt, zu ihrer Erlösung von sich selbst. Es ist kein Zweifel, wir Alle sind mit ihm verwandt und verbunden, wie wir mit dem Philosophen und dem Künstler verwandt sind; es giebt Augenblicke und gleichsam Funken des hellsten liebevollsten Feuers, in deren Lichte wir nicht mehr das Wort ‚ich‘ verstehen; es liegt jenseits unseres Wesens etwas, was in jenen Augenblicken zu einem Diesseits wird, und deshalb begehren wir aus tiefstem Herzen nach den Brücken zwischen hier und dort. In unserer gewöhnlichen Verfassung können wir freilich nichts zur Erzeugung des erlösenden Menschen beitragen, deshalb hassen wir uns in dieser Verfassung, ein Hass, welcher die Wurzel jenes Pessimismus ist, den Schopenhauer unser Zeitalter erst wieder lehren musste, welcher aber so alt ist als es je Sehnsucht nach Kultur gab. ... Denn wir wissen, was die Kultur ist. Sie will, um die Nutzanwendung auf den Schopenhauerischen Menschen zu machen, dass wir seine immer neue Erzeugung vorbereiten und fördern, indem wir das ihr Feindselige kennen lernen und aus dem Wege räumen – kurz dass wir gegen Alles unermüdlich ankämpfen, was uns um die höchste Erfüllung unsrer Existenz brachte, indem es uns hinderte, solche Schopenhauerische Menschen selber zu werden. –"

Offenbar streiten sich hier bei Nietzsche noch zwei Konzepte: einmal wendet er sich hier an alle Menschen, sich auf ihre je eigene Weise zugunsten des Hervorbringens des Genius "in und außer uns" zu bemühen – zum andern hält er mit Schopenhauer den Normalmenschen für "faul" und "Fabrikwaare". Wie seine spätere Entscheidung aussehen wird, wissen wir; und auch der Keim zum Züchtungsgedanken in Richtung auf den Übermenschen ist hier bereits angelegt, denn dieser Gedanke folgt direkt aus der Überlegung, wie die Bedingungen für das Erscheinen des Genius verbessert werden könnten.

Deshalb stößt er hier auch auf den Evolutionsgedanken Darwins, den er bereits einseitig auslegt, indem es ihm allein auf die steigernde Mutation ankommt, die er nicht als zufällig, sondern als Teleologie der Natur ansieht, wohingegen er das Wesen der Selektion durch das Bestehende und dessen Recht sui generis völlig außer Acht läßt:

"Mitunter ist es schwerer, eine Sache zuzugeben als sie einzusehen; und so gerade mag es den Meisten ergehen, wenn sie den Satz überlegen: ‚die Menschheit soll fortwährend daran arbeiten, einzelne grosse Menschen zu erzeugen – und dies und nichts Anderes sonst ist ihre Aufgabe.‘ Wie gerne möchte man eine Belehrung auf die Gesellschaft und ihre Zwecke anwenden, welche man aus der Betrachtung einer jeden Art des Thier- und Pflanzenreichs gewinnen kann, dass es bei ihr allein auf das einzelne höhere Exemplar ankommt, auf das ungewöhnlichere, mächtigere, complicirtere, fruchtbarere – wie gerne, wenn nicht anerzogne Einbildungen über den Zweck der Gesellschaft zähen Widerstand leisteten! Eigentlich ist es leicht zu begreifen, dass dort, wo eine Art an ihre Grenze und an ihren Übergang in eine höhere Art gelangt, das Ziel ihrer Entwicklung liegt, nicht aber in der Masse der Exemplare und deren Wohlbefinden, oder gar in den Exemplaren, welche der Zeit nach die allerletzten sind, vielmehr gerade in den scheinbar zerstreuten und zufälligen Existenzen, welche hier und da einmal unter günstigen Bedingungen zu Stande kommen; und ebenso leicht sollte doch wohl die Forderung zu begreifen sein, dass die Menschheit, weil sie zum Bewusstsein über ihren Zweck kommen kann, jene günstigen Bedingungen aufzusuchen und herzustellen hat, unter denen jene grossen erlösenden Menschen entstehen können."

Statt die Natur objektiv zu beobachten, wie Darwin es tat, unterschiebt ihr Nietzsche die individuelle Selbstwahrnehmung des eigenen Subjekts, das Ungenügen am "Unfertigen" (daher die Formulierung des "nichtfestgestellten Tieres"). Elitär geht er darüber hinweg, daß die meisten Individuen einer Generation, gerade auch innerhalb der Menschheit, in einem durchaus "fertigen" und "befriedigend-befriedeten" Rahmen leben, der sie eine Überschreitung dieses eigenen Rahmens eher fürchten als suchen läßt – von daher ist das konservative Moment in der Welt allzu meist stärker als das progressive, und dies unter dem evolutionären Gesichtspunkt der bestmöglichen Anpassung an die je vorhandene Umwelt sicher zu Recht.

"Mit diesem Vorhaben stellt er sich in den Kreis der Kultur; denn sie ist das Kind der Selbsterkenntniss jedes Einzelnen und des Ungenügens an sich. Jeder, der sich zu ihr bekennt, spricht damit aus: ‚ich sehe etwas Höheres und Menschlicheres über mir, als ich selber bin, helft mir alle, es zu erreichen, wie ich jedem helfen will, der Gleiches erkennt und am Gleichen leidet: damit endlich wieder der Mensch entstehe, welcher sich voll und unendlich fühlt im Erkennen und Lieben, im Schauen und Können, und mit aller seiner Ganzheit an und in der Natur hängt, als Richter und Werthmesser der Dinge.‘"

Auch hier noch ist platonischer Idealismus am Werke, wie er etwa im Symposion zum Ausdruck kommt; und alle, die sich nicht in diesen "Kreis der Kultur" stellen wollen oder können, werden offenbar als von der Kultur ausgeschlossen und wie bereits oben als im negativen Sinne "tierhaft" gesehen. Im Übrigen ist eine solche Definition von "Kultur" alles andere als selbstverständlich und allgemeingültig ...

Dieser "ersten Weihe" hier teilzunehmen läßt Nietzsche nun eine zweite folgen, in der man vom Menschen verlangt "die That, das heisst den Kampf für die Kultur und die Feindseligkeit gegen Einflüsse, Gewohnheiten, Gesetze, Einrichtungen, in welchen er nicht sein Ziel wiedererkennt: die Erzeugung des Genius." Beiläufig werden also hier alle Einrichtungen, die nicht der Erzeugung des Genius dienen, offenbar zur "Unkultur" erklärt:

"Dem, welcher sich nun auf die zweite Stufe zu stellen vermag, fällt zuerst auf, wie ausserordentlich gering und selten das Wissen um jenes Ziel ist, wie allgemein dagegen das Bemühen um Kultur und wie unsäglich gross die Masse von Kräften, welche in ihrem Dienste verbraucht wird. Man fragt sich erstaunt: ist ein solches Wissen vielleicht gar nicht nöthig? Erreicht die Natur ihr Ziel auch so, wenn die Meisten den Zweck ihrer eignen Bemühung falsch bestimmen? Wer sich gewöhnt hat, viel von der unbewussten Zweckmässigkeit der Natur zu halten, wird vielleicht keine Mühe haben zu antworten: "Ja, so ist es! Lasst die Menschen über ihr letztes Ziel denken und reden was sie wollen, sie sind doch in ihrem dunklen Drange des rechten Wegs sich wohl bewusst." Man muss, um hier widersprechen zu können, Einiges erlebt haben; wer aber wirklich von jenem Ziele der Kultur überzeugt ist, dass sie die Entstehung der wahren Menschen zu fördern habe und nichts sonst und nun vergleicht, wie auch jetzt noch, bei allem Aufwande und Prunk der Kultur, die Entstehung jener Menschen sich nicht viel von einer fortgesetzten Thierquälerei unterscheidet: der wird es sehr nöthig befinden, dass an Stelle jenes "dunklen Drangs" endlich einmal ein bewusstes Wollen gesetzt werde.(23) Und das namentlich auch aus dem zweiten Grunde: damit es nämlich nicht mehr möglich ist, jenen über sein Ziel unklaren Trieb, den gerühmten dunklen Drang zu ganz andersartigen Zwecken zu gebrauchen und auf Wege zu führen, wo jenes höchste Ziel, die Erzeugung des Genius, nimmermehr erreicht werden kann. Denn es giebt eine Art von missbrauchter und in Dienste genommener Kultur – man sehe sich nur um! Und gerade die Gewalten, welche jetzt am thätigsten die Kultur fördern, haben dabei Nebengedanken und verkehren mit ihr nicht in reiner und uneigennütziger Gesinnung."

Man sieht leicht: Sloterdijk in seiner Menschenpark-Rede und Nietzsche sind sich hier im Ansatz völlig einig: der Mensch als Art soll sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, soll das "große Individuum" gezielt hervorbringen – der Unterschied liegt allein in den Mitteln. Wie Sloterdijk in genannter Rede so ist auch Nietzsche mit dem bisher durch die Natur hervorgebrachten Menschen und dessen Umgang mit der Kultur völlig unzufrieden:

"Da ist erstens die Selbstsucht der Erwerbenden, welche der Beihülfe der Kultur bedarf, und ihr zum Danke dafür wieder hilft, aber dabei freilich zugleich Ziel und Maass vorschreiben möchte. Von dieser Seite kommt jener beliebte Satz und Kettenschluss her, der ungefähr so lautet: möglichst viel Erkenntniss und Bildung, daher möglichst viel Bedürfniss, daher möglichst viel Produktion, daher möglichst viel Gewinn und Glück – so klingt die verführerische Formel. Bildung würde von den Anhängern derselben als die Einsicht definirt werden, mit der man, in Bedürfnissen und deren Befriedigung, durch und durch zeitgemäss wird, mit der man aber zugleich am besten über alle Mittel und Wege gebietet, um so leicht wie möglich Geld zu gewinnen. Möglichst viele courante Menschen zu bilden, in der Art dessen, was man an einer Münze courant nennt, das wäre also das Ziel; und ein Volk wird, nach dieser Auffassung, um so glücklicher sein, je mehr es solche courante Menschen besitzt. Deshalb soll es durchaus die Absicht der modernen Bildungsanstalten sein, Jeden soweit zu fördern als es in seiner Natur liegt, courant zu werden, Jeden dermaassen auszubilden, dass er von dem ihm eigenen Grade von Erkenntniss und Wissen das grösstmögliche Maass von Glück und Gewinn habe. Der Einzelne müsse, so fordert man hier, durch die Hülfe einer solchen allgemeinen Bildung sich selber genau taxiren können, um zu wissen, was er vom Leben zu fordern habe; und zuletzt wird behauptet, dass ein natürlicher und nothwendiger Bund von ‘Intelligenz und Besitz’, von ‘Reichthum und Kultur’ bestehe, noch mehr, dass dieser Bund eine sittliche Nothwendigkeit sei. Jede Bildung ist hier verhasst, die einsam macht, die über Geld und Erwerb hinaus Ziele steckt, die viel Zeit verbraucht; man pflegt wohl solche ernstere Arten der Bildung als ‘feineren Egoismus’, als ‘unsittlichen Bildungs- Epikureismus’ zu verunglimpfen. Freilich, nach der hier geltenden Sittlichkeit steht gerade das Umgekehrte im Preise, nämlich eine rasche Bildung, um bald ein geldverdienendes Wesen zu werden, und doch eine so gründliche Bildung, um ein sehr viel Geld verdienendes Wesen werden zu können. Dem Menschen wird nur soviel Kultur gestattet, als im Interesse des allgemeinen Erwerbs und des Weltverkehrs ist, aber soviel wird auch von ihm gefordert. Kurz: ‘der Mensch hat einen nothwendigen Anspruch auf Erdenglück, darum ist die Bildung nothwendig, aber auch nur darum!’

Da ist zweitens die Selbstsucht des Staates, welcher ebenfalls nach möglichster Ausbreitung und Verallgemeinerung der Kultur begehrt und die wirksamsten Werkzeuge in den Händen hat, um seine Wünsche zu befriedigen. ... Überall, wo man jetzt vom ‘Kulturstaat’ redet, sieht man ihm die Aufgabe gestellt, die geistigen Kräfte einer Generation so weit zu entbinden, dass sie damit den bestehenden Institutionen dienen und nützen können: aber auch nur soweit; wie ein Waldbach durch Dämme und auf Gerüsten theilweise abgeleitet wird, um mit der kleinern Kraft Mühlen zu treiben – während seine volle Kraft der Mühle eher gefährlich als nützlich wäre. Jenes Entbinden ist zugleich und noch viel mehr ein in Fesseln Schlagen. Man bringe sich nur in’s Gedächtniss, was allmählich aus dem Christenthum unter der Selbstsucht des Staates geworden ist. Das Christenthum ist gewiss eine der reinsten Offenbarungen jenes Dranges nach Kultur und gerade nach der immer erneuten Erzeugung des Heiligen(24); da es aber hundertfältig benutzt wurde, um die Mühlen der staatlichen Gewalten zu treiben, ist es allmählich bis in das Mark hinein krank geworden, verheuchelt und verlogen und bis zum Widerspruche mit seinem ursprünglichen Ziele abgeartet. ...

Da wird drittens die Kultur von allen denen gefördert, welche sich eines hässlichen oder langweiligen Inhaltes bewusst sind und über ihn durch die sogenannte ‘schöne Form’ täuschen wollen. Mit dem Äusserlichen, mit Wort, Gebärde, Verzierung, Gepränge, Manierlichkeit soll der Beschauer zu einem falschen Schlusse über den Inhalt genöthigt werden: in der Voraussetzung, dass man für gewöhnlich das Innere nach der Aussenseite beurtheilt. Mir scheint es bisweilen, dass die modernen Menschen sich grenzenlos an einander langweilen und dass sie es endlich nöthig finden, sich mit Hülfe aller Künste interessant zu machen."

"Ich nenne viertens die Selbstsucht der Wissenschaft und das eigenthümliche Wesen ihrer Diener, der Gelehrten. Die Wissenschaft verhält sich zur Weisheit, wie die Tugendhaftigkeit zur Heiligung: sie ist kalt und trocken, sie hat keine Liebe und weiss nichts von einem tiefen Gefühle des Ungenügens und der Sehnsucht. Sie ist sich selber eben so nützlich, als sie ihren Dienern schädlich ist, insofern sie auf dieselben ihren eignen Charakter überträgt und damit ihre Menschlichkeit gleichsam verknöchert. So lange unter Kultur wesentlich Förderung der Wissenschaft verstanden wird, geht sie an dem grossen leidenden Menschen mit unbarmherziger Kälte vorüber, weil die Wissenschaft überall nur Probleme der Erkenntniss sieht, und weil das Leiden eigentlich innerhalb ihrer Welt etwas Ungehöriges und Unverständliches, also höchstens wieder ein Problem ist. ... Soll ich heraussagen, was ich denke, so lautet mein Satz: der Gelehrte besteht aus einem verwickelten Geflecht sehr verschiedener Antriebe und Reize, er ist durchaus ein unreines Metall. Man nehme zuvörderst eine starke und immer höher gesteigerte Neubegier, die Sucht nach Abenteuern der Erkenntniss, die fortwährend anreizende Gewalt des Neuen und Seltnen im Gegensatze zum Alten und Langweiligen. Dazu füge man einen gewissen dialektischen Spür- und Spieltrieb, die jägerische Lust an verschmitzten Fuchsgängen des Gedankens, so dass nicht eigentlich die Wahrheit gesucht, sondern das Suchen gesucht wird und der Hauptgenuss im listigen Herumschleichen, Umzingeln, kunstmässigen Abtödten besteht. Nun tritt noch der Trieb zum Widerspruch hinzu, die Persönlichkeit will, allen anderen entgegen, sich fühlen und fühlen lassen; der Kampf wird zur Lust und der persönliche Sieg ist das Ziel, während der Kampf um die Wahrheit nur der Vorwand ist. Zu einem guten Theile ist sodann dem Gelehrten der Trieb beigemischt, gewisse ‚Wahrheiten‘ zu finden, nämlich aus Unterthänigkeit gegen gewisse herrschende Personen, Kasten, Meinungen, Kirchen, Regierungen, weil er fühlt, dass er sich nützt, indem er die ‚Wahrheit‘ auf ihre Seite bringt."

"Wer ... zu beobachten weiss, bemerkt, dass der Gelehrte seinem Wesen nach unfruchtbar ist – eine Folge seiner Entstehung! – und dass er einen gewissen natürlichen Hass gegen den fruchtbaren Menschen hat; weshalb sich zu allen Zeiten die Genie’s und die Gelehrten befehdet haben. Die letzteren wollen nämlich die Natur tödten, zerlegen und verstehen, die ersteren wollen die Natur durch neue lebendige Natur vermehren; und so giebt es einen Widerstreit der Gesinnungen und Thätigkeiten. Ganz beglückte Zeiten brauchten den Gelehrten nicht und kannten ihn nicht, ganz erkrankte und verdrossene Zeiten schätzten ihn als den höchsten und würdigsten Menschen und gaben ihm den ersten Rang."

So richtig hier viele Einzelzüge gesehen werden, so falsch wird dann gewertet – Nietzsche läßt sich von einem elitären Individualismus leiten und übersieht völlig die fruchtbaren Leistungen, die sich aus der vertikalen und horizontalen Zusammenarbeit im Wissenschaftsbetrieb wie überhaupt in der Gesellschaft ergeben. "Der Gelehrte", wie Nietzsche ihn in der Anhäufung von Negativurteilen verunglimpft, ist eine in der Realität höchst selten vorkommende Karikatur; statt seine professoralen Kollegen zu verstehen zu suchen hat er sie verzeichnet, um auf diesen selbstgebauten Popanz einschlagen zu können – und in jenen "beglückten Zeiten" ohne Gelehrte, die er ohne Nachweis unterstellt, hätte er selbst seinen Lebensunterhalt nicht verdienen können. Auch war er merkwürdigerweise jenen führenden Basler Kreisen, die ihm seine Gelehrtenkarriere und seine Pension ermöglichten, nicht zu Unrecht zeitlebens dankbar.

Wo so vieles aus dem "natürlichen" Verlauf heraus zum Schlechten steht, erhebt sich die Frage nach der Wirkungsmächtigkeit der Natur innerhalb der Kultur:

"Was müsste man einem werdenden Philosophen gegenwärtig wünschen und nöthigenfalls verschaffen, damit er überhaupt Athem schöpfen könne und es im günstigsten Falle zu der, gewiss nicht leichten, aber wenigstens möglichen Existenz Schopenhauers bringe? Was wäre ausserdem zu erfinden, um seiner Einwirkung auf die Zeitgenossen mehr Wahrscheinlichkeit zu geben? Und welche Hindernisse müssten weggeräumt werden, damit vor allem sein Vorbild zur vollen Wirkung komme, damit der Philosoph wieder Philosophen erziehe? Hier verläuft sich unsre Betrachtung in das Praktische und Anstössige.

Die Natur will immer gemeinnützig sein, aber sie versteht es nicht zu diesem Zwecke die besten und geschicktesten Mittel und Handhaben zu finden: das ist ihr grosses Leiden, deshalb ist sie melancholisch. Dass sie den Menschen durch die Erzeugung des Philosophen und des Künstlers das Dasein deutsam und bedeutsam machen wollte, das ist bei ihrem eignen erlösungsbedürftigen Drange gewiss; aber wie ungewiss, wie schwach und matt ist die Wirkung, welche sie meisthin mit den Philosophen und Künstlern erreicht! Wie selten bringt sie es überhaupt zu einer Wirkung! Besonders in Hinsicht des Philosophen ist ihre Verlegenheit gross, ihn gemeinnützig anzuwenden; ihre Mittel scheinen nur Tastversuche, zufällige Einfälle zu sein, so dass es ihr mit ihrer Absicht unzählige Male misslingt und die meisten Philosophen nicht gemeinnützig werden. Das Verfahren der Natur sieht wie Verschwendung aus; doch ist es nicht die Verschwendung einer frevelhaften Üppigkeit, sondern der Unerfahrenheit; es ist anzunehmen, dass sie, wenn sie ein Mensch wäre, aus dem Ärger über sich und ihr Ungeschick gar nicht herauskommen würde. Die Natur schiesst den Philosophen wie einen Pfeil in die Menschen hinein, sie zielt nicht, aber sie hofft, dass der Pfeil irgendwo hängen bleiben wird. Dabei aber irrt sie sich unzählige Male und hat Verdruss. Sie geht im Bereiche der Kultur ebenso vergeuderisch um, wie bei dem Pflanzen und Säen. Ihre Zwecke erfüllt sie auf eine allgemeine und schwerfällige Manier: wobei sie viel zu viel Kräfte aufopfert. Der Künstler und andererseits die Kenner und Liebhaber seiner Kunst verhalten sich zu einander wie ein grobes Geschütz und eine Anzahl Sperlinge. Es ist das Werk der Einfalt, eine grosse Lawine zu wälzen, um ein wenig Schnee wegzuschieben, einen Menschen zu erschlagen, um die Fliege auf seiner Nase zu treffen. ...

Wer nun die Unvernunft in der Natur dieser Zeit erkannt hat, wird auf Mittel sinnen müssen, hier ein wenig nachzuhelfen; seine Aufgabe wird aber sein, die freien Geister und die tief an unsrer Zeit Leidenden mit Schopenhauer bekannt zu machen, sie zu sammeln und durch sie eine Strömung zu erzeugen, mit deren Kraft das Ungeschick zu überwinden ist, welches die Natur bei Benutzung des Philosophen für gewöhnlich und auch heute wieder zeigt. Solche Menschen werden einsehen, dass es dieselben Widerstände sind, welche die Wirkung einer grossen Philosophie verhindern und welche der Erzeugung eines grossen Philosophen im Wege stehen; weshalb sie ihr Ziel dahin bestimmen dürfen, die Wiedererzeugung Schopenhauers, das heisst des philosophischen Genius vorzubereiten. Das aber, was der Wirkung und Fortpflanzung seiner Lehre sich von Anbeginn widersetzte, was endlich auch jene Wiedergeburt des Philosophen mit allen Mitteln vereiteln will, das ist, kurz zu reden, die Verschrobenheit der jetzigen Menschennatur; weshalb alle werdenden grossen Menschen eine unglaubliche Kraft verschwenden müssen, um sich nur selbst durch diese Verschrobenheit hindurch zu retten. Die Welt, in die sie jetzt eintreten, ist mit Flausen eingehüllt; das brauchen wahrhaftig nicht nur religiöse Dogmen zu sein, sondern auch solche flausenhafte Begriffe wie "Fortschritt", "allgemeine Bildung", "National", "moderner Staat", "Culturkampf"; ja man kann sagen, dass alle allgemeinen Worte jetzt einen künstlichen und unnatürlichen Aufputz an sich tragen, weshalb eine hellere Nachwelt unserer Zeit im höchsten Maasse den Vorwurf des Verdrehten und Verwachsenen machen wird – mögen wir uns noch so laut mit unserer "Gesundheit" brüsten."

Kein Gegenmittel gegen diese "Verschrobenheit" ist insbesondere das Studium der Philosophie:

"Was geht unsre Jünglinge die Geschichte der Philosophie an? Sollen sie durch das Wirrsal der Meinungen entmuthigt werden, Meinungen zu haben? Sollen sie angelehrt werden, in den Jubel einzustimmen, wie wir’s doch so herrlich weit gebracht? Sollen sie etwa gar die Philosophie hassen oder verachten lernen? Fast möchte man das letztere denken, wenn man weiss, wie sich Studenten, ihrer philosophischen Prüfungen wegen, zu martern haben, um die tollsten und spitzesten Einfälle des menschlichen Geistes, neben den grössten und schwerfasslichsten, sich in das arme Gehirn einzudrücken. Die einzige Kritik einer Philosophie, die möglich ist und die auch etwas beweist, nämlich zu versuchen, ob man nach ihr leben könne, ist nie auf Universitäten gelehrt worden: sondern immer die Kritik der Worte über Worte. Und nun denke man sich einen jugendlichen Kopf, ohne viel Erfahrung durch das Leben, in dem fünfzig Systeme als Worte und fünfzig Kritiken derselben neben und durch einander aufbewahrt werden – welche Wüstenei, welche Verwilderung, welcher Hohn auf eine Erziehung zur Philosophie!"

Während der Abfassung dieser Philippika gegen die zeitgenössische Philosophie schreibt er an Overbeck dazu am 30. Juli 1874: "...ich wenigstens habe einen ganzen Schirlingsbecher für die Philosophieprofessoren zu Stande gebracht ... süss und bitter, Arznei und Gift, alles beide je nach der Person, für die er eingegossen wird." (Briefwechsel mit F. u. I. Overbeck, hg. v. K. Meyer u. B.b. Reibnitz, Metzler Verlag Stuttgart-Weimar 2000, S. 15).
Diesen Argumenten Nietzsches wird man sich schwerlich entziehen können, wenn man denn jenes allen Schülern bekannte Wort gelten lassen würde: "non scolae, sed vitae discimus." Der Verfasser dieser Zeilen bekennt, daß ihn ein Semester "logische Propädeutik"(25) die Flucht vor solcher Art Fachphilosophie hat ergreifen lassen. Schon zu Nietzsches Zeiten stand diese offenbar in einem Ansehen, das sich jedenfalls in Deutschland weniger verbessert als noch verschlechtert hat:

"Man gedenke nur an seine eigne Studentenzeit; für mich zum Beispiel waren die akademischen Philosophen ganz und gar gleichgültige Menschen und galten mir als Leute, die aus den Ergebnissen der andern Wissenschaften sich etwas zusammen rührten, in Mussestunden Zeitungen lasen und Concerte besuchten, die übrigens selbst von ihren akademischen Genossen mit einer artig maskirten Geringschätzung behandelt wurden. Man traute ihnen zu, wenig zu wissen und nie um eine verdunkelnde Wendung verlegen zu sein, um über diesen Mangel des Wissens zu täuschen. Mit Vorliebe hielten sie sich deshalb an solchen dämmerigen Orten auf, wo es ein Mensch mit hellen Augen nicht lange aushält. Der Eine wendete gegen die Naturwissenschaften ein: keine kann mir das einfachste Werden völlig erklären, was liegt mir also an ihnen allen? Ein Andrer sagte von der Geschichte "dem welcher die Ideen hat, sagt sie nichts Neues" – kurz, sie fanden immer Gründe, weshalb es philosophischer sei nichts zu wissen als etwas zu lernen. Liessen sie sich aber auf’s Lernen ein, so war dabei ihr geheimer Impuls, den Wissenschaften zu entfliehen und in irgend einer ihrer Lücken und Unaufgehelltheiten ein dunkles Reich zu gründen. So gingen sie nur noch in dem Sinne den Wissenschaften voran, wie das Wild vor den Jägern, die hinter ihm her sind. Neuerdings gefallen sie sich mit der Behauptung, dass sie eigentlich nur die Grenzwächter und Aufpasser der Wissenschaften seien; dazu dient ihnen besonders die kantische Lehre, aus welcher sie einen müssigen Scepticismus zu machen beflissen sind, um den sich bald Niemand mehr bekümmern wird. Nur hier und da schwingt sich noch einer von ihnen zu einer kleinen Metaphysik auf, mit den gewöhnlichen Folgen, nämlich Schwindel, Kopfschmerzen und Nasenbluten. Nachdem es ihnen so oft mit dieser Reise in den Nebel und die Wolken misslungen ist, nachdem alle Augenblicke irgend ein rauher hartköpfiger Jünger wahrer Wissenschaften sie bei dem Schopfe gefasst und heruntergezogen hat, nimmt ihr Gesicht den habituellen Ausdruck der Zimperlichkeit und des Lügengestraftseins an. ... Auch das logische Denken kann man bei ihnen nicht mehr lernen, und die sonst üblichen Disputirübungen haben sie in natürlicher Schätzung ihrer Kräfte eingestellt. Ohne Zweifel ist man jetzt auf der Seite der einzelnen Wissenschaften logischer, behutsamer, bescheidner, erfindungsreicher, kurz es geht dort philosophischer zu als bei den sogenannten Philosophen."

Wie überlegen Nietzsche sich den genialen Philosophen vorstellt, sagt er schon hier ganz deutlich, und diese fast schon "göttliche" Hochschätzung des Genius gibt dann auch den Grund ab für all jene späteren Maßnahmen, die er sich für die Ermöglichung des "Übermenschen" wird einfallen lassen:

"Zuletzt aber – was gilt uns die Existenz eines Staates, die Förderung der Universitäten, wenn es sich doch vor Allem um die Existenz der Philosophie auf Erden handelt! oder – um gar keinen Zweifel darüber zu lassen, was ich meine – wenn so unsäglich mehr daran gelegen ist, dass ein Philosoph auf Erden entsteht, als dass ein Staat oder eine Universität fortbesteht.


Ralph Waldo Emerson (1803-1882)

... Ein Amerikaner mag ihnen sagen, was ein grosser Denker, der auf diese Erde kommt, als neues Centrum ungeheurer Kräfte zu bedeuten hat. ‚Seht euch vor, sagt Emerson, wenn der grosse Gott einen Denker auf unsern Planeten kommen lässt. Alles ist dann in Gefahr. Es ist wie wenn in einer grossen Stadt eine Feuersbrunst ausgebrochen ist, wo keiner weiss, was eigentlich noch sicher ist und wo es enden wird. Da ist nichts in der Wissenschaft, was nicht morgen eine Umdrehung erfahren haben möchte, da gilt kein litterarisches Ansehn mehr, noch die sogenannten ewigen Berühmtheiten; alle Dinge, die dem Menschen zu dieser Stunde theuer und werth sind, sind dies nur auf Rechnung der Ideen, die an ihrem geistigen Horizonte aufgestiegen sind und welche die gegenwärtige Ordnung der Dinge ebenso verursachen, wie ein Baum seine Äpfel trägt. Ein neuer Grad der Kultur würde augenblicklich das ganze System menschlicher Bestrebungen einer Umwälzung unterwerfen.‘ Nun, wenn solche Denker gefährlich sind, so ist freilich deutlich, wesshalb unsre akademischen Denker ungefährlich sind; denn ihre Gedanken wachsen so friedlich im Herkömmlichen, wie nur je ein Baum seine Äpfel trug. ... die Würde der Philosophie [ist] in den Staub getreten: es scheint, dass sie selber zu etwas Lächerlichem oder Gleichgültigem geworden ist: so dass alle ihre wahren Freunde verpflichtet sind, gegen diese Verwechslung Zeugniss abzulegen und mindestens so viel zu zeigen, dass nur jene falschen Diener und Unwürdenträger der Philosophie lächerlich oder gleichgültig sind. Besser noch, sie beweisen selbst durch die That, dass die Liebe zur Wahrheit etwas Furchtbares und Gewaltiges ist.

Dies und jenes bewies Schopenhauer – und wird es von Tag zu Tage mehr beweisen."

So endet Nietzsche seine 3. Unzeitgemäße Betrachtung.

Wir sehen hier einen aufklärerischen Ansatz, der stark an Kants berühmtes Motto der Aufklärung und seinen Aufruf erinnert, das Wagnis des Selbstdenkens auf sich zu nehmen; aber bei Nietzsche meint jenes "Werde, der du bist!" natürlich noch etwas ganz anderes als bei Kant. Bei letzterem soll die "Selbstwerdung" dadurch herbeigeführt werden, daß sich das Individuum seiner eigenen Vernunft bedient, d.h. der menschliche Geist in Form der Vernunft soll die eigenständige Leitung übernehmen – im Grunde der genaue Gegensatz zu Nietzsches Auffassung: Dessen "Selbst" soll gerade daraus erstehen, von den "verkleinernden", "beengenden" und "gleichmacherischen Anschauungen der Welt, wie die Vernunft sie im Gefolge von Sokrates und des Christentums ausbildet, loszukommen. Er meint das Individuelle im Hören auf die "Instinkte des Leibes" herausfiltern zu sollen. Hier sind Parallelen zu Stirners "anarchischem Einzelnen" und Feuerbachs "Sinnlichkeit"(26) zu finden – in allen drei Fällen eine Umkehrung des Kantschen Ansatzes. Diese Umkehrung hat ihre Berechtigung in der dualistischen Überbetonung der Metaphysik der Vernunft bei jenem; aber indem die Vernunft nunmehr im Namen des Leibes und der Sinne, jedenfalls bei Nietzsche und Stirner, verworfen wird, schüttet man das Kind mit dem Bade aus, anstatt "Leib" und Vernunft in ein rechtes Verhältnis zu bringen. Aus dieser zuletzt immer noch dualistischen Antithetik zwischen Leib und Vernunft erwachsen alle Entgegensetzungen, aus deren Spannung sich Nietzsches Philosophie bis hin zum Antichrist nähren wird: Masse und Einzelner, "Heerde" und Genie, "decadence" und "große Gesundheit", Mitleid und "Hammer-Philosophie", Christentum und Antike, Dionysos und Apoll. Es sind mithin bereits hier alle Keime angelegt, die am späten Nietzsche so empören – andererseits ist in der kritischen Bestandsaufnahme und Diagnose des modernen Menschen Vieles gesagt, was auch heute noch auf uns zutrifft und etwa in der "Menschenpark-Debatte" ganz ähnlich aufgenommen wurde. Nicht umsonst ist einer der Gewährsmänner von Sloterdijk Friedrich Nietzsche, der denn auch zum 100. Todestag als Hauptredner der Weimarer Gedenkveranstaltung auftreten durfte.(27)

Da hier in der 3. UZB die späteren Konsequenzen nur teilweise und in wesentlich milderer Form sichtbar sind, so kann diese kritische Diagnose auch dem heutigen Menschen, für den sich die von Nietzsche prognostizierten negativen Entwicklungen noch erheblich beschleunigt haben, durchaus den einen oder anderen Gedanken mit auf den Weg geben. Ziehen wir noch den Hauptgedanken der 2. Unzeitgemäßen Betrachtung über den Umgang mit der Historie hinzu, so läßt sich daraus auch heute noch ein gültiger Ansatzpunkt für die eigene Sehweise und Formung der Existenz gewinnen: Will das Individuum nicht eine zufällige Wiederholung längst erstarrter menschlicher Existenzweise bleiben, so muß es einerseits durch die Schichtung und Geschichte des menschlichen Existierens hindurch, muß sie wissend und existentiell nacherlebt haben, um sie in diesem Prozeß, sich selbst als deren lebendiger Teil akzeptierend, anzuverwandeln. Wie leicht einzusehen, folgt aus diesem Vorgehen notwendig der Nietzschesche Polyperspektivismus ganz von selbst.(28)

Nietzsche verweist damit auf einen "Dritten Weg", denn er will zwischen der Antithetik von Positivismus/Materialismus/Darwinismus auf der einen Seite und allen Formen von Idealismus und Ideologie hindurch; nicht zwar zur Hegelschen Synthese, in der alles mehrfach "aufgehoben" ist, sondern: – auf zu neuen Ufern! – das ist seine unverlierbare Wirkung. Er verweist auf die absolute und in jedem Sinne unbedingte Bedeutung des Individuums zurück – was ihn mit der griechischen Philosophie, dem Christentum und nicht zuletzt Luther verbindet: die Vernunft entdeckt das Individuelle ganz anders als der Verstand. Aber auch dieses Unerhörte der Vernunft gerät an sein Ende (der Metaphysik), erstarrt in deren Reflexionsphase zu "Lehren", "Leeren", die überschritten werden müssen, und genau dagegen "rast" im Versuch des Transzendierens Nietzsches "Lebendigkeit" an.

Recht wird er immer behalten mit dem Anspruch, mit dem er bereits von Anfang an aufgetreten ist, und der sich durch all seine Schriften hindurchzieht: Werde der du bist, und das heißt vor allem: werde über dich hinaus – damit ist (trotz aller Gegnerschaft Nietzsches zum Darwinismus) die Entwicklungspotenz des Lebendigen ausgesprochen, und so empfahl er Lou Salomé und anderen seine Dritte Unzeitgemäße Betrachtung als Lektüre. Warum ausgerechnet dieses Werk? Weil er ein sehr gutes Gefühl dafür hat, daß er hier seinen Ansatzpunkt am reinsten darstellt, und zwar noch ohne jene Konsequenzen, die sein Philosophieren spätestens seit der Fröhlichen Wissenschaft so problematisch machen. Und Cosima Wagner konnte ihm deshalb am 26. Oktober 1874 schreiben: "Dieses ist meine Unzeitgemässe ... und ich danke Ihnen von Herzen für die freudige Erregung, welche mir durch die Lesung derselben geworden ist. Gefühle, Gedanken, Einfälle, Erkenntnisse, Können und Wissen haben mich daran Staunen gemacht, und an dem Begeisterungsfeuer welches alles durchglüht, habe ich mich wiederum erwärmt ..." (KGB; II, 4, Nr. 599, S. 591).
Nietzsche selbst schreibt im Rückblick 10 Jahre später nach der Abfassung der ersten Teile des Zarathustra an Overbeck dazu: "Beim Durchlesen meiner "Litteratur", die ich jetzt wieder einmal beisammen sehe, fand ich mit Vergnügen, daß ich noch alle starken Willens-Impulse, die in ihr zu Worte kommen, in mir habe und daß auch in dieser Hinsicht kein Grund zu Entmuthigung da ist. Übringes habe ich so gelebt, wie ich es mir selber (namentlich im "Schopenhauer als Erzieher") vorgezeichnet habe. Falls Du den Zarath. mit in Deine Mußezeit nehmen solltest, nimm, der Vergleichung halber, doch die eben genannte Schrift mit hinzu (ihr Fehler ist, daß eigentlich in ihr nicht von Schopenhauer, sondern fast nur von mir die Rede ist – aber das wußte ich selbst nicht, als ich sie machte.)" (Briefwechsel mit F. u. I. Overbeck, S. 263 f., Brief von Anfang August 1884 aus Sils an Overbeck)
Im "Schopenhauer" als einer vor allem kritischen Schrift sind neben dem Dank an den verehrten Lehrer all jene Beobachtungen zusammengetragen, die zum Motor des Nietzscheschen Denkens werden und damit alle Grundmuster erst keimhaft angelegt, aus denen seine Philosophie ihre einseitigen Konsequenzen zieht. Mit ihr geht er über den Lehrer hinaus, und wendet sich von dessen metaphysischen Willen zum Nichts um in die Formulierung der diesseitigen Ziele und Aufgaben. Ebenso wie er Schopenhauer übersteigt, kann man mit Nietzsche ein wichtiges Stück Weg, ihn sich "einverleibend", zu sich selbst gehen und eben damit über ihn hinaus, wie er es denn auch selbst wünscht.(29)

Nun könnte man natürlich meinen: Wie sollen all die bislang von Menschen gelebten Perspektiven, auf die man im Durchgang der menschlichen Geschichte, die damit als eigene bewußt angenommen wird, nebeneinander Platz in einem Gehirn finden? Und richtig, bei den meisten "Individuen" wird es so sein, daß sie sich bei der mehr oder weniger bewußten Kenntnisnahme der Tradition dieser Existenzformen wiederum mehr oder weniger unbewußt für eine ihnen entsprechende und daher "sympathische" Form und damit für eine bestimmte Religion oder Philosophie weniger entscheiden als sich dieser überlassen. Dagegen spricht nun ganz und gar nichts, vielmehr ist dies eine der Hauptaufgaben der Tradition: Angebot an die nachfolgenden Generationen zu sein, sich aus ihr die jeweils auf eine bestimmte genetische und kulturelle Ausprägung passende Weise des Existierens entborgen zu lassen. Hier ist die Nietzschesche Auffassung des Verhältnisses von "Masse" und Tradition völlig verfehlt, wenn er (mit Schopenhauer!) einseitig auf die Erzeugung des "Genies" setzt und den "Rest" der Menschen zur "Fabrikwaare" erklärt. Beide übergehen im subjektiv-einseitigen Entschluß die unaufhebliche Zusammengehörigkeit von Einzelnem und Masse sowie deren Wechselwirkung.(30)

Manchen Individuen – und dies ist keineswegs "elitär" gemeint, sondern eher schon im Sinne der Mendelschen Vererbungslehre: daß ganz bestimmte erbliche Verbindungen seltener sind als andere – können sich, bedingt durch ihre individuelle Konstitution, die sich aus "Begabung" und/oder Umweltdruck ergeben mag, mit einer "nur" wiederholenden (Massen-)Existenzweise nicht anfreunden – sie wollen und müssen im Nietzscheschen Sinne diejenigen werden, die sie selbst sind. An dieser Stelle aber hat Nietzsche seinen eigenen Polyperspektivismus verraten, indem er meinte, bestimmte Perspektiven/Existenzformen als richtig, andere als falsch bewerten zu sollen. Er als Subjekt, das als so seiendes an seiner Umwelt leidet, spricht aus ganz fadenscheinigen und falschen Überlegungen heraus, die er mit quasi objektiven Kriterien des Lebens selbst gleichsetzt, bestimmten Existenzformen das Lebensrecht ab. Er will den Nihilismus der Vernunft am Ende von deren Metaphysik mit der Rückwendung auf Sinnlichkeit und Instinkt (ohne je dies gehörig zu unterscheiden) "überwinden", indem er all jene Perspektiven als "schädlich" und "hemmend" verwirft, welche die Vernunft seit Sokrates über Platon und Aristoteles sowie das Christentum in 2500jähriger Arbeit ans Licht gezogen hat. Für ihn sind es allein die "seltenen großen Einzelnen", die die Welt rechtfertigen und ihr Sinn und Gesetz geben, es komme allein darauf an, die Bedingungen für die Hervorbringung solcher Genies zu schaffen.(31)

Daher stammt es auch, daß er sich in völliger Unkenntnis seiner gleichzeitigen gesellschaftlichen Umwelt befindet – weder die Politik der Mächtigen seiner Zeit noch die gesellschaftlichen Bedingungen der Menschen interessieren ihn wirklich, sondern nur insoweit, als sie seinen eigenen Auffassungen entgegenstehen. Die in seiner Zeit stattfindenden Auseinandersetzungen um Demokratie, Sozialismus, Liberalismus, Nationalismus und Imperialismus sind ihm lediglich höchst lästige Erscheinungsformen von Fehlwegen der Vernunft, die es einfach abzuschaffen gelte. Deshalb befaßt er sich nicht mit all diesen gesellschaftlichen Phänomenen, welche die meisten seiner Zeitgenossen umtreiben, und so wirkt er noch einmal aus einer ganz anderen Perspektive "unzeitgemäß" und "romantisch" – weil er seine eigene Zeit einfach nicht zur Kenntnis nimmt! Hier ist denn auch ein Berührungspunkt mit den Mythen Wagners, die sich soweit von der realen Wirklichkeit lösen, daß sie in der Fantasie eine ebensolche Erlösung zu gewähren scheinen wie das Jenseits des Christentums gegenüber dem irdischen Jammertal. Beide, Nietzsche und Wagner, entfremden mit ihrer "Kunst" auf je eigene Weise das Individuum seiner realen Welt ganz ähnlich wie einst die Religion und wirken so ebenfalls in Richtung eines "immanenten Dualismus", in dem die Welt der "privaten Heilsvorstellungen" mit der herrschenden gesellschaftlichen Realität nicht zur Deckung gebracht werden kann. Nur daß man jetzt nicht mehr in die sonntägliche Kirche sondern ins Theater geht oder sich an den Versprechungen "Zarathustras" vom Übermenschen berauscht.

Doch andererseits: Was wäre der Mensch ohne Religion im weiten Sinne, die ihn die Ehrfurcht vor der Schöpfung lehrt? Woran würde er seine besten, aus seiner Innerlichkeit erwachsenden Bestrebungen anbinden wenn nicht vermittelt durch die Kunst, in der er ein über sich hinausweisendes Bild hinzustellen vermag? Würden wir uns nicht an einer Welt, die allein sich aus dem Diesseitswissen des Verstandes und der Vernunft aufrichtete, erkälten? Und so wird selbst der "wissenschaftliche Mensch" zuletzt zu der Einsicht kommen, daß allein durch rationale Erklärung der Welt noch lange nichts darüber gesagt ist, was aus dieser Welt einschließlich der Menschen, deren Entwicklung ja nicht stehen bleibt, werden soll. Die Erhellung dessen, was bis zu Dir hin geworden ist; bildet nur eine Vorstufe zum Auftrag des "Werde, der du bist"; für das: "Aber wie weiter an diesem Punkt?" bedarf es einer Vision über das Tagesgeschehen und über den Bestand des in der Menschheit Erreichten hinaus.(32) Und es bedarf einer Intuition, die sich nicht allein aus der quantitierenden Häuftelung des Wissens ergibt. Hierin, in dieser Haltung, kann uns gerade auch Nietzsche Vorbild sein, indem er den Menschen auf sein je eigenes Werden verpflichtet.

Nietzsche hat jedoch aus richtigen (kulturkritischen) Ansätzen mit der 2. und 3. Unzeitgemäßen Betrachtung die falsche Konsequenz gezogen. Das Richtige an diesem Ansatz war der Polyperspektivismus, und diesen hat er aus Verzweiflung an der Vernunft (mit dieser selben Vernunft) gewaltsam aufgegeben, statt ihn zum Ausgangspunkt des neuen Ansatzes zu machen. Hier möchte ich eine Parallele ziehen zu einer kleinen Betrachtung, in der ich an anderer Stelle auf hier recht passende Weise bereits dasjenige "Verfahren" nachzuvollziehen suche(33), wie im Wege der Rezeption und Reflexion auch noch dieser wünschenswerte Polyperspektivismus überwunden werden kann.

Es wird dort am Beispiel des Klavierspiels gezeigt, wie sich im Wege der Wahrnehmung von Notenzeichen (Rezeption), deren Verbindung mit motorischen Abläufen, (Ein-)Übung (sic) und selbständig reflektierender Oberzeichenbildung der Übende schließlich zu einer Vortragsform gelangen kann, die sich, durch mehrfache Reflexionsvorgänge losgelöst von den einzelnen Noten wie Akkorden, auf die Darbietung des Inhalts konzentriert. Ganz ebenso löst sich die Problematik des Polyperspektivismus: Die Möglichkeiten menschlichen Existierens können in der Durchmusterung der Phylogenese in der eigenen Ontogenese(34) rezipierend aufgenommen, existierend eingeübt und oberzeichenbildend reflektiert werden – man läßt beim Vortrag nicht bestimmte Noten oder Akkorde weg, nur alle zusammen bilden das Material, aus dem die Individualität des Pianisten den Gesamtzusammenhang des Stückes gibt.

Im Status der Reflexion kommt es dann nicht auf das konkrete (bereits durchmusterte und hinter sich gelassene) Wissen von und über diese Stationen an, ebenso wie der Pianist im Vortrag nichts von den einzelnen Noten oder Akkorden weiß. Diese werden nurmehr als Oberzeichen benutzt, die lebendige Gestaltungskraft aber ist frei geworden, indem sie sich im gegenwärtigen Vortrag, in der gegenwärtig-individuellen realen Existenz ausspricht, er-eignet.

Doch kehren wir zu Nietzsche zurück und dazu, was an ihm für heute denn noch bedeutsam sein möchte; dazu habe ich einen Gewährsmann aus dem Jahre 1926 ausgewählt, dessen ausgewogene Worte meiner Meinung nach bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben; Johannes M. Verweyen, Philosophieprofessor und ausgebildeter Musikus an der Universität Bonn, schreibt zusammenfassend in seinem Buch Wagner und Nietzsche(35):

"Nietzsche hält sich für einen Träger des Lichtes. Und sicherlich kann er mit vollem Rechte dem Siegfriedgeschlechte derer zugezählt werden, welche mit der Fackel ihrer Erkenntnis in die verborgensten Schachte der Welt hineinzuleuchten suchten. Daß der Wille, in das Gebiet der letzten Dinge erkennend vorzustoßen, in Nietzsche auf ungewöhnliche Weise ausgeprägt war, davon zeugt die Fülle seines Schaffens, der seltene Umfang seiner Werke. Wer sich je vorurteilslos in sie versenkt, mag viele Gedankenbildungen unzulänglich erklären, aber die bohrende Energie des Denkens als solche wird er zu bestaunen nicht umhin können. Mit seltener Rastlosigkeit – darin Richard Wagner wesensverwandt – jagte Nietzsche als Denker durch seine Welten und durchmaß Gebiete von größter Vielseitigkeit. Auch er ist verehrungswürdig in dieser Zähigkeit, in der Unermüdlichkeit seines Fleißes. Als Argonaut des Ideals, wie er sich selbst einmal kennzeichnet, eilte er von Stufe zu Stufe dem Lande seiner höchsten Hoffnung zu und suchte mit seiner Seele tiefster Sehnsucht neue Eilande unentdeckter Möglichkeiten des höheren Menschentums. Auch er in diesen formalen Zügen seiner Wesensart ein leuchtendes Vorbild auf dem Wege der Vollendung, ein unermüdlicher Sucher. ...

Nietzsche selbst kennzeichnet sich einmal als den ‚großen Frager in der Philosophie‘: Unleugbar zeichnet er sich aus durch eine Fülle neuartiger Problemstellungen, welche vor allem der Wertlehre angehören. Als Erster erhebt er die Moral als solche zum Problem und bemüht sich in origineller Weise um die Aufdeckung ihrer letzten Wurzeln, um ihre ‚Genealogie‘. Als Erster beginnt er biologische Faktoren wie die Ernährung für die ethische Gesamtverfassung des Menschen zu würdigen und die Leiblichkeit in den Umkreis der Wertsetzungen hineinzubeziehen. ‚Rechtwinkelig an Leib und Seele‘ wünscht Zarathustra seine Jünger. Als Vorläufer der Seelentiefenforschung, der Psychoanalyse, begibt sich Nietzsche in die Hintergründe des Bewußtseins und spürt den geheimsten Regungen nach, erhebt er vor allem die bedeutungsvolle Frage, ob irgendeine Wertsetzung oder Handlung der Macht oder Ohnmacht ihren Ursprung dankt. So grenzt er auch das starke weitblickende, auf ‚fernste Liebe‘ gerichtete Mitleid scharf gegen das schwache Mitleid ab, das nur die engen Perspektiven des Nächsten kennt. Die anregende und weckende Kraft seiner Problemstellungen bleibt auch für den wertvoll, der seinen Problemlösungen die Zustimmung versagt. ...

Als Verkünder eines kraftvollen Ja-Sagens zum Dasein, trotz, ja gerade wegen seines leidvollen Charakters, als Wecker eines starken Lebensglaubens darf Nietzsche in unserem Zeitalter eine aus mattem Pessimismus aufrüttelnde Bedeutung beanspruchen und wird dies mit seinen Grundakkorden für alle Zeiten behalten."

Im Jahr 1882, also acht Jahre nach Erscheinen der Unzeitgemäßen Betrachtung Schopenhauer als Erzieher, macht Nietzsche seine Leser mit seiner neuen Sehweise auf Schopenhauer bekannt; im Zweiten Buch der Fröhlichen Wissenschaft im Stück Nr. 99 unterzieht er die Anschauungen seines ehemaligen Lehrmeisters in philosophicis einer Kritik; gleichzeitig zeigt er jedoch auf, was an Schopenhauer wertvoll und festhaltenswert sei - und, da er schon einmal dabei ist, geht er hierbei auch auf seine "lebenslange Wunde", seinen ehemaligen Freund und Schopenhauerianer Richard Wagner ein. Im Folgenden also dieses Stück Nr. 99 aus der Fröhlichen Wissenschaft:

Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, Zweites Buch, Nr. 99
KSA 3, S. 453-457

Die Anhänger Schopenhauer’s. – Was man bei der Berührung von Cultur-Völkern und Barbaren zu sehen bekommt: dass regelmässig die niedrigere Cultur von der höheren zuerst deren Laster, Schwächen und Ausschweifungen annimmt, von da aus einen Reiz auf sich ausgeübt fühlt und endlich vermittelst der angeeigneten Laster und Schwächen Etwas von der werthhaltigen Kraft der höheren Cultur mit auf sich überströmen lässt: – das kann man auch in der Nähe und ohne Reisen zu Barbaren-Völkern mit ansehen, freilich etwas verfeinert und vergeistigt und nicht so leicht mit Händen zu greifen. Was pflegen doch die Anhänger S c h o p e n h a u e r’ s in Deutschland von ihrem Meister zuerst anzunehmen? – als welche, im Vergleich zu dessen überlegener Cultur, sich barbarenhaft genug vorkommen müssen, um auch durch ihn zuerst barbarenhaft fascinirt und verführt zu werden. Ist es sein harter ThatsachenSinn, sein guter Wille zu Helligkeit und Vernunft, der ihn oft so englisch und so wenig deutsch erscheinen lässt? Oder die Stärke seines intellectuellen Gewissens, das einen lebenslangen Widerspruch zwischen Sein und Wollen a u s h i e l t und ihn dazu zwang, sich auch in seinen Schriften beständig und fast in jedem Puncte zu widersprechen? Oder seine Reinlichkeit in Dingen der Kirche und des christlichen Gottes? – denn hierin war er reinlich wie kein deutscher Philosoph bisher, so dass er "als Voltairianer" lebte und starb. Oder seine unsterblichen Lehren von der Intellectualität der Anschauung, von der Apriorität des Causalitätsgesetzes, von der Werkzeug Natur des Intellects und der Unfreiheit des Willens? Nein, diess Alles bezaubert nicht und wird nicht als bezaubernd gefühlt: aber die mystischen Verlegenheiten und Ausflüchte Schopenhauer’s, an jenen Stellen, wo der Thatsachen-Denker sich vom eitlen Triebe, der Enträthseler der Welt zu sein, verführen und verderben liess, die unbeweisbare Lehre von E i n e m  W i l l e n ("alle Ursachen sind nur Gelegenheitsursachen der Erscheinung des Willens zu dieser Zeit, an diesem Orte", "der Wille zum Leben ist in jedem Wesen, auch dem geringsten, ganz und ungetheilt vorhanden, so vollständig, wie in Allen, die je waren, sind und sein werden, zusammengenommen"), die L e u g n u n g  d e s  I n d i v i d u u m s ("alle Löwen sind im Grunde nur Ein Löwe", "die Vielheit der Individuen ist ein Schein"; sowie auch die E n t w i c k l u n g nur ein Schein ist: – er nennt den Gedanken de Lamarck’s "einen genialen, absurden Irrthum"), die Schwärmerei vom G e n i e ("in der ästhetischen Anschauung ist das Individuum nicht mehr Individuum, sondern reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subject der Erkenntniss"; "das Subject, indem es in dem angeschauten Gegenstande ganz aufgeht, ist dieser Gegenstand selbst geworden"), der Unsinn vom M i t l e i d e und der in ihm ermöglichten Durchbrechung des principii individuationis als der Quelle aller Moralität, hinzugerechnet solche Behauptungen "das Sterben ist eigentlich der Zweck des Daseins", "es lässt sich a priori nicht geradezu die Möglichkeit ableugnen, dass eine magische Wirkung nicht auch sollte von einem bereits Gestorbenen ausgehen können": diese und ähnliche Ausschweifungen und Laster des Philosophen werden immer am ersten angenommen und zur Sache des Glaubens gemacht: – Laster und Ausschweifungen sind nämlich immer am leichtesten nachzuahmen und wollen keine lange Vorübung. Doch reden wir von dem berühmtesten der lebenden Schopenhauerianer, von Richard Wagner. – Ihm ist es ergangen, wie es schon manchem Künstler ergangen ist: er vergriff sich in der Deutung der Gestalten, die er schuf, und verkannte die unausgesprochene Philosophie seiner eigensten Kunst. Richard Wagner hat sich bis in die Mitte seines Lebens durch Hegel irreführen lassen; er that das Selbe noch einmal, als er später Schopenhauer’s Lehre aus seinen Gestalten herauslas und mit "Wille", "Genie" und "Mitleid" sich selber zu formuliren begann. Trotzdem wird es wahr bleiben: Nichts geht gerade so sehr wider den Geist Schopenhauer’s, als das eigentlich Wagnerische an den Helden Wagner’s: ich meine die Unschuld der höchsten Selbstsucht, der Glaube an die grosse Leidenschaft als an das Gute an sich, mit Einem Worte, das Siegfriedhafte im Antlitze seiner Helden. "Das Alles riecht eher noch nach Spinoza als nach mir" – würde vielleicht Schopenhauer sagen. So gute Gründe also Wagner hätte, sich gerade nach anderen Philosophen umzusehen als nach Schopenhauer: die Bezauberung, der er in Betreff dieses Denkers unterlegen ist, hat ihn nicht nur gegen alle anderen Philosophen, sondern sogar gegen die Wissenschaft selber blind gemacht; immer mehr will seine ganze Kunst sich als Seitenstück und Ergänzung der Schopenhauerschen Philosophie geben und immer ausdrücklicher verzichtet sie auf den höheren Ehrgeiz, Seitenstück und Ergänzung der menschlichen Erkenntniss und Wissenschaft zu werden. Und nicht nur reizt ihn dazu der ganze geheimnissvolle Prunk dieser Philosophie, welche auch einen Cagliostro gereizt haben würde: auch die einzelnen Gebärden und die Affecte der Philosophen waren stets Verführer! Schopenhauerisch ist zum Beispiel Wagner’s Ereiferung über die Verderbniss der deutschen Sprache; und wenn man hierin die Nachahmung gut heissen sollte, so darf doch auch nicht verschwiegen werden, dass Wagner’s Stil selber nicht wenig an all den Geschwüren und Geschwülsten krankt, deren Anblick Schopenhauern so wüthend machte, und dass, in Hinsicht auf die deutsch schreibenden Wagnerianer, die Wagnerei sich so gefährlich zu erweisen beginnt, als nur irgend eine Hegelei sich erwiesen hat. Schopenhauerisch ist Wagner’s Hass gegen die Juden, denen er selbst in ihrer grössten That nicht gerecht zu werden vermag: die Juden sind ja die Erfinder des Christenthums. Schopenhauerisch ist der Versuch Wagner’s, das Christenthum als ein verwehtes Korn des Buddhismus aufzufassen und für Europa, unter zeitweiliger Annäherung an katholisch-christliche Formeln und Empfindungen, ein buddhistisches Zeitalter vorzubereiten. Schopenhauerisch ist Wagner’s Predigt zu Gunsten der Barmherzigkeit im Verkehre mit Thieren; Schopenhauerns Vorgänger hierin war bekanntlich Voltaire, der vielleicht auch schon, gleich seinen Nachfolgern, seinen Hass gegen gewisse Dinge und Menschen als Barmherzigkeit gegen Thiere zu verkleiden wusste. Wenigstens ist Wagner’s Hass gegen die Wissenschaft, der aus seiner Predigt spricht, gewiss nicht vom Geiste der Mildherzigkeit und Güte eingegeben – noch auch, wie es sich von selber versteht, vom G e i s t e überhaupt. – Zuletzt ist wenig an der Philosophie eines Künstlers gelegen, falls sie eben nur eine nachträgliche Philosophie ist und seiner Kunst selber keinen Schaden thut. Man kann sich nicht genug davor hüten, einem Künstler um einer gelegentlichen, vielleicht sehr unglücklichen und anmaasslichen Maskerade willen gram zu werden; vergessen wir doch nicht, dass die lieben Künstler sammt und sonders ein wenig Schauspieler sind und sein müssen und ohne Schauspielerei es schwerlich auf die Länge aushielten. Bleiben wir Wagnern in dem treu, was an ihm w a h r und ursprünglich ist, – und namentlich dadurch, dass wir, seine Jünger, uns selber in dem treu bleiben, was an uns wahr und ursprünglich ist. Lassen wir ihm seine intellectuellen Launen und Krämpfe, erwägen wir vielmehr in Billigkeit, welche seltsamen Nahrungen und Nothdürfte eine Kunst, wie die seine, haben d a r f , um leben und wachsen zu können! Es liegt Nichts daran, dass er als Denker so oft Unrecht hat; Gerechtigkeit und Geduld sind nicht s e i n e Sache. Genug, dass sein Leben vor sich selber Recht hat und Recht behält: – dieses Leben, welches Jedem von uns zuruft: "Sei ein Mann und folge mir nicht nach, – sondern dir! Sondern dir!" Auch u n s e r Leben soll vor uns selber Recht behalten! Auch wir sollen frei und furchtlos, in unschuldiger Selbstigkeit aus uns selber wachsen und blühen! Und so klingen mir, bei der Betrachtung eines solchen Menschen, auch heute noch, wie ehedem, diese Sätze an’s Ohr: "dass Leidenschaft besser ist, als Stoicismus und Heuchelei, dass Ehrlich-sein, selbst im Bösen, besser ist, als sich selber an die Sittlichkeit des Herkommens verlieren, dass der freie Mensch sowohl gut als böse sein kann, dass aber der unfreie Mensch eine Schande der Natur ist, und an keinem himmlischen noch irdischen Troste Antheil hat; endlich dass J e d e r , d e r   f r e i werden will, es durch sich selber werden muss, und dass Niemandem die Freiheit als ein Wundergeschenk in den Schooss fällt". (Richard Wagner in Bayreuth S. 94.)


Anmerkungen:

1 Eine neue Wertlehre, welche die hergebrachte Ethik der Vernunft übersteigen will, wird nicht daraus erwachsen, daß man zunächst die "alte Ethik" einfach abschafft – ein völliges Verkennen dessen, wie sich genetische und epigenetische Evolution aus dem vorhergehenden Bestand entwickelt. Ebenso wie einst die Ethik der Vernunft die Moral des Verstandes und deren inneren Maßstab des Nutzens überwuchs, ohne doch für sich selbst diese Nützlichkeit zu verwerfen, sondern sie als Basis beibehielt – eine nutzlose Ethik wäre ja ganz unnütz –, eben dasselbe gilt für das Übersteigen der Ethik der Vernunft: Eine neue Wertlehre, die sich der Moral des Verstandes und der Ethik der Vernunft überlagern soll, muß im besten Hegelschen Sinne deren Gesichtspunkte des Nutzens und der Wesensgleichheit in sich aufheben.

2 "Nun, wenn kein feindseliger Gott uns hindert – praefiscine dixerim [unberufen!] – so soll im Frühjahr in Paris ein neues Leben beginnen, eine wahre sumfon…a. – –" Rohde an Nietzsche am 23. Dezember 1868, Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit E. Rohde, hg. von Elisabeth Förster-Nietzsche und Fritz Schöll, Insel-Verlag Leipzig, S. 116

3 Brief an E. Rohde von Anfang Januar / wiederaufgenommen und versandt am 16. Januar 1869, Briefwechsel mit E. Rohde, S. 126

4 "Ich will mein Urteil über ihn kurz fassen [...]: so viele junge Kräfte ich auch seit nunmehr 39 Jahren unter meinen Augen sich habe entwickeln sehen: noch nie habe ich einen jungen Mann gekannt resp in meiner disciplina nach meinen Kräften zu fördern gesucht; der so früh und so jung schon so reif gewesen wäre, wie diesen Nietzsche. ... Er ist er erste, von dem ich schon als Studenten überhaupt Beiträge aufgenommen. Bleibt er, was Gott gebe, lange leben, so prophezeie ich, daß er dereinst im vordersten Range der deutschen Philologie stehen wird. Er ist jetzt 24 Jahre alt; stark, rüstig, gesund, tapfer von Körper und Charakter, recht gemacht, um ähnlichen Naturen zu imponieren. Dazu besitzt er eine beneidenswerte Gabe so ruhiger wie gewandter und klarer Darstellung in freier Rede. Er ist der Abgott und (ohne es zu wollen) Führer der ganzen jungen Philologenwelt hier in Leipzig, die (ziemlich zahlreich) die Zeit nicht erwarten kann, ihn als Docenten zu hören. [...] eine Art von Phaenomen; nun ja, er ist das auch ..." Ritschl im Dezember 1868 an A. Kießling, den Basler Philologen, auf dessen Professur Nietzsche nachfolgen sollte, in: Friedrich Nietzsche, Chronik in Bildern und Texten, Carl Hanser Verlag, München-Wien 2000, S. 186

5 Ein Gedanke, der Nietzsche nie losließ, so wollte er bekanntlich auch zusammen mit Lou Salomé und Paul Rée noch 1882 in Paris naturwissenschaftliche Studien aufnehmen!

6 BAW 3, S. 315

7 KSB 2, Nr. 573, S. 283

8 KSB 2, Nr. 584, S. 308

9 KSB 2, Nr. 583, S. 307 – Übrigens denke ich, daß wir in solcher Sagweise am ehesten denjenigen Nietzsche erleben, wie seine gewinnende Art von allen, die ihm nur einigermaßen nahekamen, geschildert wird.

10 Eine ausführliche Schilderung findet sich auf der Wagner-Seite meines Nietzsche-Projekts im Internet unter http://www.f-nietzsche.de

11 Prof. Dr. Dr. Glenn W. Most, Seminar für Klassische Philologie, Heidelberg: Friedrich Nietzsche zwischen Philosophie und Philologie; Quelle Internet: http://www.uni-heidelberg.de/uni/presse/rc6/3.html

12 aaO.

13 Im Gefolge des Wilamowitz-Angriffs (s. Wagner-Seite) waren alle philologischen Studenten ausgeblieben.

14 F. Nietzsche, "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne", in "Unzeitgemäße Betrachtungen", Kröner-Verlag Stuttgart, 6. Aufl. 1976, S. 609

15 Eine frühe Feuerbach-Lektüre Nietzsches ist nachgewiesen; aber vor allem auch in den Diskussionen mit Wagner ist Nietzsche mit dessen an Feuerbach entwickelter Kunstauffassung konfrontiert worden (s. R. Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft und dessen Widmung an Feuerbach), auf welchem Wege die Feuerbachschen Anschauungen wiederum ihren Anklang bei Nietzsche erzeugten, wie sich an vielen Passagen des Wagner-Textes zeigen läßt.

16 Anfang Juni 1874 beginnt Nietzsche seine 3. Unzeitgemäße in Basel mit der Vorrede, doch die große Hitze und deren körperliche Folgen für Nietzsche bringen die Arbeit im Juli ins Stocken; zwischendurch fährt er nach Zürich zur Aufführung des Triumphliedes durch Brahms (s. Wagner-Seite); nachdem er in den Semesterferien in Bergün (Graubünden) weiter an diesem Text gearbeitet hatte (und wohl auch noch in Bayreuth – es kommt zur Triumphlied-Episode mit Wagner; offenbar hatte Nietzsche insoweit noch Glück, daß ihm das Manuskript in Würzburg auf dem Bahnhof nicht ebenso gestohlen wurde wie sein Emerson und die von Wagner signierte "Ring"-Ausgabe), geht das Manuskript am 19. August nach der Rückkunft in Basel an seinen Verleger Schmeitzner, am 29. September sind die letzten Korrekturen beendet. Am 15. Oktober erscheint "Schopenhauer als Erzieher" in einer Auflage von 1000 Exemplaren.

17 s. dazu Helmut Walther, Die Ethik Schopenhauers und Feuerbachs, S. 62 f. in Aufklärung und Kritik, Sonderheft 3/1999, Schwerpunkt Ludwig Feuerbach, publiziert im Internet unter http://www.ludwig-feuerbach.de

18 Ecce homo, Die Unzeitgemäßen, 3 (Nietzsche, Werke, hg. v. Ivo Frenzel, Bd. II, S. 444):

"Daß die mit dem Namen Schopenhauer und Wagner abgezeichneten Unzeitgemäßen sonderlich zum Verständnis oder auch nur zur psychologischen Fragestellung beider Fälle dienen könnten, möchte ich nicht behaupten – einzelnes, wie billig, ausgenommen. ... Im Grunde wollte ich mit diesen Schriften etwas ganz andres als Psychologie treiben – ein Problem der Erziehung ohnegleichen, ein neuer Begriff der Selbst-Zucht, Selbst-Verteidigung bis zur Härte, ein Weg zur Größe und zu welthistorischen Aufgaben verlangte nach seinem ersten Ausdruck. Ins große gerechnet nahm ich zwei berühmte und ganz und gar noch unfestgestellte Typen beim Schopf, wie man eine Gelegenheit beim Schopf nimmt, um etwas auszusprechen, um ein paar Formeln, Zeichen, Sprachmittel mehr in der Hand zu haben. Dies ist zuletzt, mit vollkommen unheimlicher Sagazität, [in] der dritten Unzeitgemäßen auch angedeutet. Dergestalt hat sich Plato des Sokrates bedient, als einer Semiotik für Plato. – Jetzt, wo ich aus einiger Ferne auf jene Zustände zurückblicke, deren Zeugnis diese Schriften sind, möchte ich nicht verleugnen, daß sie im Grunde bloß von mir reden. Die Schrift »Wagner in Bayreuth« ist eine Vision meiner Zukunft; dagegen ist in »Schopenhauer als Erzieher« meine innerste Geschichte, mein Werden eingeschrieben. Vor allem mein Gelöbnis! ...

Hier ist jedes Wort erlebt, tief, innerlich; es fehlt nicht am Schmerzlichsten, es sind Worte darin, die geradezu blutrünstig sind. Aber ein Wind der großen Freiheit bläst über alles weg; die Wunde selbst wirkt nicht als Einwand. – Wie ich den Philosophen verstehe, als einen furchtbaren Explosionsstoff, vor dem alles in Gefahr ist, wie ich meinen Begriff »Philosoph« meilenweit abtrenne von einem Begriff, der sogar noch einen Kant in sich schließt, nicht zu reden von den akademischen »Wiederkäuern« und andren Professoren der Philosophie, darüber gibt diese Schrift eine unschätzbare Belehrung, zugegeben selbst daß hier im Grunde nicht »Schopenhauer als Erzieher«, sondern sein Gegensatz, »Nietzsche als Erzieher«, zu Worte kommt."

19 Was sollte uns eine Philosophie sein, die nicht anspricht!? Der es nicht um die bedeutsamen Fragmale des lebendigen Menschen geht? Daher die Ablehnung der "Fachphilosophie" etwa durch Schopenhauer, Feuerbach und Nietzsche: "Ich mache mir aus einem Philosophen gerade so viel, als er imstande ist ein Beispiel zu geben." (3. UZB, 3)

20 Was ist Aufklärung, Einleitung (1783): "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"

21 Wer dächte da nicht an die in Anm. 6 genannte Kantsche Schrift, in welcher "der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit" gefordert wird?

22 Daran, daß Nietzsche hier mit Schopenhauer den Heiligen neben den Philosophen und Künstler stellt, läßt sich ersehen, daß er sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht in so schroffer Weise von der "dekadenten Masse" abgesetzt hatte wie später: kein "Heiliger" sieht sich als Gegensatz zur Masse der Normalmenschen, sondern als deren Vorbild und Hoffnung – und Nietzsches Kulturkritik kann ja auch nur darin motiviert sein, auf die ihn umgebenden Menschen fördernd einzuwirken.

23 Heraushebungen in Fettstellung durch den Verf.

24 Diese Einschätzung des Christentums aus dem Munde Nietzsches macht doch sehr stutzig – der Staat als "Verderber des Christentums"?! Man könnte den Eindruck gewinnen, daß er sophistisch so argumentiert, wie er es gerade gebrauchen kann.

25 Wenn man es für den richtigen Einstieg in die Philosophie hält, mit logischen Paradoxen den Kopf der Hörer in den Schwindel zu treiben – die deutsche Sprache zeigt auch hier sehr schön den sinnlichen und abstrakt-übertragenen Doppelsinn solchen Tuns! –, so gibt man sich selbst damit an, nicht verstanden zu haben, was Philosophie ist. Die Logik ist das Endergebnis der Wesensaufdeckung in der Vernunftentwicklung – eine "Einführung in die Philosophie", die damit beginnt, womit sie eigentlich enden sollte: mit der Reflexion der Infragestellung ihrer eigenen Ergebnisse, muß ihr Ziel verfehlen. Eine wirkliche epagogé (Heranführung) im sokratischen Sinn, die sich als Maieutik (Geburtshilfe – sic!) versteht, würde – wie auch sonst in jeder genetischen bzw. kulturellen Entwicklung – in der Ontogenese den Weg der Phylogenese nachzugehen suchen. D.h., sie würde sich klarmachen, warum und als was Philosophie mit der Frage nach dem Wesen der Dinge durch die Vernunft an diesem Punkt entstehen mußte, und gleichzeitig würde sie diese Schilderung der kulturellen Phänomene unterfüttern durch eine anthropologische Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes in Verbindung mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der Gehirnforschung.

26 s. dazu auch Helmut Walther, Die Wiederentdeckung der Sinnlichkeit, S. 85 ff. in Aufklärung und Kritik, Sonderheft 3/1999, Schwerpunkt Ludwig Feuerbach, publiziert im Internet unter http://www.ludwig-feuerbach.de

27 Sloterdijk scheint sich bei Nietzsche nicht nur dies elitäre Moment abgeschaut zu haben, sondern auch dessen Stilmittel der polemischen Überspitzung; beiden wurde und wird sicher nicht zu Unrecht das Etikett "Schreihals" umgehängt. Nun ist eine solche Schreibweise am Platze, wenn das Publikum in die Reflexion eingetreten ist, wie es schon Kierkegaard kritisierte, und auf die leisen Töne nicht mehr reagiert – und der "Erfolg" gibt beiden insoweit durchaus recht; allerdings sollte die mit solcher Über-Reizung erregte Aufmerksamkeit dann auch den Blick auf Inhalte und eine Persönlichkeit freigeben, die uns in Wort und Beispiel etwas zu sagen hat. Für Nietzsche gilt dies.

28 Allerdings schon in diesem Werk (2. UZB) zeigt Nietzsche seine subjektive und gewaltsame Ein-Seitigkeit, wenn er darauf insistiert, daß es den nachwachsenden Individuen gestattet sein müsse, ehemalige Sehweisen der Welt umzustürzen, sich ersatzlos über sie hinwegzusetzen.

29 "Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur Schüler bleibt." (Zarathustra I, Von der schenkenden Tugend 3)

30 Das Wesen der Tradition selbst, dieses kulturellen Informationspools der Menschheit, deren Bildung und Weitergabe, ihre Zugehörigkeit zu Masse und Einzelnen nehmen beide Denker nicht einmal wahr ...

31 Daher sieht sich Nietzsche selbst ganz antidarwinistisch – obwohl er natürlich trotz allem, wenn auch einseitig, dieses Gedankengut benutzt: er stellt allein ab auf die "Mutation", "Innovation", die es geradezu "zu züchten" (!) gelte, und läßt das Wesen der Selektion dabei ganz außer Acht: daß alle Innovation am Bestehenden ausgelesen werden muß, sei es in der genetischen bzw. epigenetisch-kulturellen Evolution. Es ist diese Einseitigkeit des "Genies um seiner selbst willen", die Nietzsches Ansatz so falsch, so unethisch, und so bar jeder Aufnahme aller wichtigen gesellschaftlichen Strömungen seiner Zeit macht.

32 So auch der amerikanische CAS-Forscher (über die Theorie der komplexen adaptiven Systeme) Stuart Kauffmann, Träger des MacArthur Genius Award: "... unsere Wissenschaft ist zu voll von Wissen und zu arm am Können. ... Dabei brauchen wir Newton und Shakespeare!" (DER SPIEGEL 50/2000, S. 156)

33 "Die Funktion des Geistes am Beispiel des Klavierspielens" – publiziert im Internet unter http://www.hwalther.de. Siehe dort auf der Artikelseite unter: "Man müßte Klavier spielen können..."

34 eine deutliche epigenetisch-kulturelle Parallele zur embryonal-genetischen Entwicklung!

35 Johannes M. Verweyen, Wagner und Nietzsche, Verlag von Strecker und Schröder, Stuttgart 1926, S. 181,189,190. Verweyen (1883-1945) lehrte an der Universität Bonn Philosophie; dem 1921 aus der kath. Kirchen Ausgetretenen wurde von den Nazis, da er sich vehement gegen deren Antisemitismus wandte, 1934 die Lehrerlaubnis entzogen; 1936 wieder in die kath. Kirche eingetreten, wurde er 1941 auf einer seiner Vortragsreisen, mit denen er sich seinen Lebensunterhalt verdiente, von der Gestapo verhaftet; bis Anfang 1945 saß er im KZ Sachsenhausen ein und starb am 21.03.1945 im KZ Bergen-Belsen am Flecktyphus. Dieser aufrechte Bekenner und Wahrheitssucher zählt zu den ganz wenigen Philosophen, die durch die Verfolgung der Nazis ums Leben kamen.


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