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Helmut Walther (Nürnberg)

Nietzsche als Komponist

Vortrag beim Seminar der Gesellschaft für kritische Philosophie in Kottenheide
zu Nietzsches 100. Geburtstag vom 15.-17. Oktober 2000

Lassen wir uns von Nietzsche selbst auf das Thema einstimmen – mit einem Ausschnitt seines Hymnus an die Freundschaft, einer Komposition für Klavier zu 4 Händen, dargeboten von Aribert Reimann und Dietrich Fischer-Dieskau; es handelt sich hier wie bei den späteren Beispielen um den Originalmitschnitt des Konzertes von 1981, den mir damals auf mein schriftliches Ersuchen hin Fischer-Dieskau freundlicherweise zusandte.

Dieser Hymnus ist die letzte eigentliche Komposition Nietzsches, entstanden in den Jahren 1872-1875, später noch verschiedentlich umgearbeitet, wie wir sehen werden, wohl erstanden aus der Freundschaft mit Franz Overbeck, mit dem er, solange sie in Basel zusammen in der "Baumannshöhle" wohnten, das vierhändige Klavierspiel gepflegt hatte.

Hymnus an die Freundschaft

Bereits als 14-Jähriger notiert Nietzsche 1858:

"Gott hat uns die Musik gegeben, damit wir erstens, durch sie nach oben geleitet werden. Die Musik vereint alle Eigenschaften in sich, sie kann erheben, sie kann tändeln, sie kann uns aufheitern, ja sie vermag mit ihren sanften, wehmütigen Tönen das roheste Gemüt zu brechen. Aber ihre Hauptbestimmung ist, daß sie unsre Gedanken auf Höheres leitet, daß sie uns erhebt, sogar erschüttert. ... Auch gewährt die Musik eine angenehme Unterhaltung und bewahrt jeden, der sich dafür interessiert, vor Langeweile. Man muß alle Menschen, die sie verachten, als geistlose, den Tieren ähnliche Geschöpfe betrachten. Immer sei diese herrlichste Gabe Gottes meine Begleiterin auf meinem Lebenswege und ich kann mich glücklich preisen, sie liebgewonnen zu haben. Ewig Dank sei Gott von uns gesungen, der diesen schönen Genuß uns darbietet!"

Man sieht, bereits der Knabe hat ein sehr inniges Verhältnis zur Musik; bei seiner Abstammung aus einem evangelischen Pfarrhaus naheliegend(1), interessiert er sich für geistliche Musik, dabei spielt er recht gut Klavier und komponiert, neben Oratorien vor allem Lieder, etwa nach Texten von Klaus Grothe und dem ungarischen Dichter Sándor Petöfi, aber auch nach Puschkin und Hoffmann von Fallersleben. Das Komponieren eignet er sich als Autodidakt an, sich dabei auf Albrechtsberger stützend, der einst der Lehrer Beethovens war. Gerne widmet er seine Kompositionen Verwandten etwa zu Festtagen, so auch das folgende Lied, das er in Naumburg seiner Tante Rosalie zugeeignet hat:

Da geht ein Bach [1862], Text von Klaus Groth

Bereits seit einem Alter von 14 Jahre an verfaßt er immer wieder neu sich Rechenschaft gebend – oft etwas altkluge – "Lebensrückblicke" samt "Werkkatalogen", wo er penibel seine Dichtungen und Kompositionen aufführt, 1858 bereits etwa 46 Einzelnummern. 1862 plant er gar eine Ermanarichsinfonie (nach dem Vorbild der Lisztschen sinfonischen Dichtung Hungaria), auf dem Klavier spielt er unter vielem anderen vor allem Beethovensche Sonaten. Sein Freund von Gersdorff schreibt in seinen Erinnerungen(2): "Seine Improvisationen (in der Pfortenser Zeit) sind mir unvergeßlich; ich möchte glauben, selbst Beethoven habe nicht ergreifender phantasieren können, als Nietzsche, namentlich, wenn ein Gewitter am Himmel stand." In Bonn 1864/65, wo er sein Philologiestudium beginnt, hat er offenbar viel Zeit für Theater und Konzert, wie seine Übersicht der verschiedenen Aufführungen zeigt, gleichzeitig ist er weiter eifrig am Komponieren – insbesondere die Puschkin- und Petöfi-Vertonungen entstehen um diese Zeit. In Anbetracht all dieser Umstände galt er bei seinen Kommilitonen als musikalische Autorität. Und nicht nur das: in Leipzig wurde ihm in seiner Studienzeit 1868 gar das Opern-Feuilleton einer Zeitung angetragen. Hören wir eine weitere Liedkomposition:

Verwelkt [1864], Text von Sándor Petöfi

Grundsätzlich – so jedenfalls meine eigene interpretierende Hörerfahrung – unterscheidet sich der "Komponist Nietzsche" von anderen "ernsthaften" Komponisten insbesondere dadurch: letztere arbeiten an der musikalischen Idee, bis sie diese in angemessener Form in ein objektiviertes Werk übersetzt, dieses "aus sich heraus" gestellt und zu musikalischem Eigenleben geführt haben. Für Nietzsche ist musikalisches Schaffen – wie auch das Hören – immer direkter Existenz-Ausdruck, seine Musik gibt subjektive Stimmungen wieder: das Leben ist ohne Musik für ihn ein Irrtum, wie er sich einmal ausdrückt.(3) So wird er zum Komponieren oder deren Umarbeitungen nicht grundleitend von einer inneren Idee her angetrieben, vielmehr bedarf es neben der entsprechenden "Gestimmtheit" meist auch eines äußeren Anlasses, wie wir es etwa bei den verschiedenen Widmungen, etwa in der Familie oder an Cosima Wagner, oder am "Lebensgebet" Lou Salomés sehen.

Werner Ross(4), einer seiner Biografen, drückt diesen Sachverhalt so aus: "Ebenso zweifellos war Nietzsche ein musikalisches Naturtalent. Er mußte in der Musik einen Teil seiner Mission sehen, in der Parteinahme für Dionysos und Schopenhauer zugleich ihr Lob, in seinem Klavierspiel den Beweis für seine Theorie. Eben weil Musik ihm zufloß und in ihm überfloß, war er kaum imstande zu verstehen, was Komponieren als Arbeit heißt ..."

Lassen wir die eben gehörten Nietzscheschen Kompositionen Fritz Schleicher, den langjährigen Feuilletonisten der Nürnberger Nachrichten kommentieren, der 1981 über das Konzert von Fischer-Dieskau und Reimann so berichtete:

"Hier, wo sich der handwerklich wenig geschulte Amateur-Komponist in seiner Sensibilität vom Wort leiten lassen konnte, gelangen ihm phantasievolle, melodisch wie harmonisch einprägsame Schöpfungen. ... [Er] spricht ... eine unmittelbare Tonsprache, erreicht Schönheiten, die an sein Vorbild Schumann erinnern und Kühnheiten, deren diagnostischer Blick Mahler vorausahnen läßt.

Nietzsches Musik offenbart seine schöpferische Sehnsucht, seine künstlerische Aktivität. Der denkwürdige Abend ... zeigte auch den komplizierten, von Skepsis und vernichtenden Urteilen begleiteten Prozeß, in sich den inneren Musiker freizumachen und zum Singen zu bringen.

Der die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik ableitete, der in Briefen Worte durch einen Akkord ersetzte, um eine Stimmung genauer mitzuteilen, für den Musik eine Passion war, für Nietzsche sind Töne, Klänge und Rhythmen immer Chiffren des Unsagbaren. Je mehr er an der großen symphonischen Form scheiterte, vertraute er Wesentliches dem Klavier und der Singstimme an."

Das tiefste Erlebnis Nietzsches, sowohl im Hinblick auf seine Philosophie wie auch im Hinblick auf seine Stellung zur Musik, war sicherlich die enge Begegnung mit Wagner, den er als Student in Leipzig kennengelernt hatte, und den er in dessen Tribschener "Exil" von Basel aus häufig besuchte. Er war sowohl von dem Menschen wie dem Musiker Wagner aufs tiefste beeindruckt – und so zieht sich die Auseinandersetzung mit Wagner durch sein ganzes Leben, seine ersten wie auch seine letzten Schriften gelten ihm, von der Geburt der Tragödie bis hin zu Nietzsche contra Wagner.

Kaum nach Basel gekommen, wo er mit 24 Jahren auf Empfehlung seines Leipziger Lehrers Ritschl eine Professur erhalten hatte, schrieb er am 22.05.1869 kurz nach seinem ersten persönlichen Besuch in Tribschen (15.05.) an Wagner zu dessen 56. Geburtstag:

"Sehr verehrter Herr, wie lange habe ich schon die Absicht gehabt, einmal ohne alle Scheu auszusprechen, welchen Grad von Dankbarkeit ich Ihnen gegenüber empfinde; da sich tatsächlich die besten und erhobensten Momente meines Lebens an Ihren Namen knüpfen und ich nur noch einen Mann kenne, noch dazu Ihren großen Geistesbruder Arthur Schopenhauer, an den ich mit gleicher Verehrung, ja religione quadam denke. Ich freue mich, Ihnen an einem festlichen Tage dies Bekenntnis ablegen zu können und tue dies nicht ohne ein Gefühl des Stolzes." (5)

Bald mußte er erkennen, daß es nicht ganz so einfach war, neben diesem Genie als autodidaktischer Komponist selbst auch etwas leisten zu wollen, oder etwa andere zeitgenössische Komponisten wie Brahms zu schätzen; dazu möchte ich Ihnen zwei Episoden nicht vorenthalten:

Weihnachten 1871 hatte Nietzsche seine neue Komposition Nachklang einer Sylvesternacht, die er zum Vierhändigspielen mit Overbeck aus alten Motiven "generalüberholt" hatte, Frau Cosima zu Weihnachten verehrt, war aber – in der Erinnerung, daß im Vorjahr Richard Wagners Tribschener Idyll unter dem Weihnachtsbaum gelegen hatte – wohlweislich den Vergleich scheuend selbst trotz Einladung ferngeblieben.(6) Seinem Freund Gustav Krug gegenüber schildert er die Komposition so: "Das Ganze ist auf wenig Themen aufgebaut, in der Tonfarbe freilich orchestral, ja förmlich gierig nach Orchestration, aber Du weißt – hier kann ich nicht mehr mit. ... es ist ein so reinliches Manuskript, daß ich mit Overbeck es immer aus der ersten Niederschrift bis jetzt gespielt habe." An Rohde(7) schreibt er: "Frau Wagner, deren Geburtstag am 25. December ist ... habe ich meine ‚Sylvesternacht‘ gewidmet und bin gespannt, was ich über meine musikalische Arbeit von dort aus zu hören bekomme, da ich noch nie etwas Competentes zu hören bekam."

Hören Sie einen Ausschnitt aus der Sylvesternacht (für Klavier und Violine)!

Lassen wir den Fortgang Curt Paul Janz erzählen(8), der 1978/79 Nietzsches Standardbiografie vorgelegt hat und der gleichzeitig, wie wir noch sehen werden, Musikwissenschaftler ist:
"Die Beschenkte reagierte feinfühlig-rücksichtsvoll am 30. Dezember 1871: »Sylvester-Tag soll für die Sylvester-Nacht-Klänge danken; gemeinsame Eindrücke zur Erinnerung geworden, leuteten durch die Mitternachtsglocken meinem diesjährigen Geburtstag, und ich sage dem freundlichen Melomanen Dank!« Erst 15 Jahre später, im November 1887, gibt sie in einem Brief an Felix Mottl etwas davon frei, was sich in Tribschen abgespielt hatte : »Jakob Stocker, mein damaliger Diener... blieb beim Abdecken des Tisches... stehen, hörte aufmerksam zu, wandte sich endlich ab mit den Worten >schint mir nicht gut<. Ich gestehe, daß ich vor Lachen, trotz meiner damaligen großen Freundschaft, gar nicht weiterspielen konnte.« Ausführlicher schildert die Szene Hans Richter, der »mit der Frau Meisterin zusammen die >Silvesterglocken< spielte. Wagner saß unruhig dabei, knetete sein Barett und ging vor Schluß hinaus ... ich fürchtete ein Donnerwetter. Aber Jakobs Kritik ... hatte es abgeschwächt; ich fand den Meister bloß in vollem Lachen. >Da verkehrt man nun schon seit anderthalb Jahren mit dem Menschen, ohne dergleichen zu ahnen; und nun kommt er so meuchlings, die Partitur im Gewande.<«"

Wesentlich tiefer wirksam war – jedenfalls auf Seiten Nietzsches – das Erlebnis mit dem Brahmsschen Triumphlied:

Nietzsche berichtet am 14. Juni 1874 an Rohde über ein Konzert des Basler Gesangvereins vom 9. Juni im Basler Münster, an dem das Triumphlied von Brahms (1871 aus Anlaß des deutschen Sieges komponiert) zur Aufführung gelangte(9): "In der letzten Zeit war Dein Landsmann Brahms hier, und ich habe viel von ihm gehört, vor allem sein Triumphlied, das er selbst dirigierte. Es war mir eine der schwersten ästhetischen Gewissens-Proben, mich mit Brahms auseinanderzusetzen; ich habe jetzt ein Meinungchen über diesen Mann. Doch noch sehr schüchtern." Nietzsche mußte das Brahms’sche Triumphlied doch einen starken Eindruck gemacht haben, denn bereits am 12. Juli fuhr er mit Romundt eigens zu einer erneuten Aufführung des Werkes nach Zürich – und er beschaffte sich einen Klavierauszug.

Hören Sie einen Ausschnitt des Triumphliedes.

Nietzsche war natürlich bewußt, daß Wagner Brahms aus tiefstem Herzen ablehnte und – wie von den meisten anderen zeitgenössischen Komponisten auch – nichts hören wollte. Trotzdem nahm er bei seinem Besuch vom 4.-15. August des Jahre 1874 in Bayreuth die Noten zum Triumphlied mit. Lassen wir auch hier Janz berichten(10):

Über die Erlebnisse dieser elf Tage gibt es verschiedene Memoirenberichte, die als authentische Darstellungen des Hergangs zitiert werden. Ohne auf Einzelheiten darin einzugehen, können wir ihnen aber als grundsätzliche Begebenheit entnehmen, daß Nietzsche beharrlich versuchte, mit dem Klavierauszug des Triumphliedes Wagner an Brahms heranzuführen, und daß Wagner mit Wut und Toben auf dieses Ansinnen reagiert habe. Nur der Diplomatie, Güte und Liebe Cosimas gelang es, den offenen Bruch im Streit zu vermeiden. Die Enttäuschungen waren beidseitig und haben, mindestens für Wagner, ihre Ursachen nicht nur in dem Brahms-Zwischenfall.

Nietzsche [der krank angereist war] hatte sich rasch erholt, und schon für den Abend des 5. August kann Cosima notieren: "Wir verleben einen heiteren Abend zusammen." Am folgenden Tag dreht sich das Gespräch zunächst um Nietzsches Verlegersorgen, die Angriffe der Presse auf ihn im Gefolge des Strauß... Am Abend spielt dann Wagner die Rheintöchter-Szene aus dem Schluß der Götterdämmerung, und da hinein platzt nun Nietzsche mit dem Triumphlied von Brahms! Viel ungeschickter hätte er es nicht anstellen können. "Richard lacht laut auf, daß Musik auf das Wort ‚Gerechtigkeit‘ gemacht würde." Dann schweigt man einen Tag über die Sache. Samstag den 8. August kommt es zur Entscheidung. "Nachmittags spielen wir" ... "das Triumphlied von Brahms, großer Schrecken über die Dürftigkeit dieser uns selbst von Freund Nietzsche gerühmten Komposition, Händel, Mendelssohn und Schumann in Leder gewickelt; Richard wird sehr böse und spricht von seiner Sehnsucht, etwas zu finden in der Musik, auch von der Überlegenheit des Christus (von Liszt), wo doch ein Gestaltungstrieb, eine Empfindung, welche zur Empfindung spreche, vorhanden sei." Abends läßt Wagner aus Opern von Auber spielen und zum Schluß seinen Kaisermarsch. Damit scheint die Diskussion um Brahms beendet.

Nietzsche ist noch eine Woche in Bayreuth und reist am 15. ab, "nachdem er Richard manche schwere Stunde verursacht. Unter anderem behauptete er, keine Freude an der deutschen Sprache zu finden, lieber lateinisch zu sprechen usw." Es ist also nicht nur das Triumphlied von Brahms, sondern der Blick in seine unheilvolle innere Zerrissenheit, den er den Bayreuthern gewährt, was hier zu ernsten Bedenken Anlaß gab – Bedenken, nicht "Bruch", denn mit tiefem Mitempfinden nehmen Wagner und Cosima in den folgenden Tagen den Bericht Overbecks über die Vereinsamung ihres Freundes im Kreise seiner Fachkollegen entgegen. "Der ganze Bann der Universität liegt auf ihm." Davon, daß Nietzsche bei diesem Besuch seine Kompositionen gespielt habe, erwähnt Cosima im Tagebuch nichts. Erst 15 Jahre später schreibt sie an Felix Mottl: "Ein Hymnus an die Freundschaft hat eigentlich den Bruch begonnen. Der kam nach Bayreuth und war sehr traurig..." Doch, wann "kam" dieser Hymnus nach Bayreuth? 1874 war er noch nicht ausgeformt. Es wäre denkbar, daß die endgültige Gestalt, welche die Komposition im folgenden Herbst erhielt, auf Kritik und Ratschlägen Wagners aufgrund der Entwurffassung beruht. Noch im November 1876 trifft man sich in Sorrent, mindestens von Wagners Seite in alter Herzlichkeit. Von "Bruch" ist da noch nichts zu spüren, höchstens von Besorgtheit, wie jetzt, August 1874 schon... Der "Bruch" beginnt mit Nietzsches Absage an die Philosophie Schopenhauers und seinem Menschliches – Allzumenschliches, davor liegt höchstens eine Entfremdung oder "Befremdung".

Dagegen schloß sich die Enttäuschung auf seiten Nietzsches vorwiegend an das Brahms-Erlebnis an. Plötzlich stand der hehre "Meister" aller Hoheit und "Größe" entblößt als kleiner eifersüchtiger Despot da, nicht stark genug, das Können eines anderen zu würdigen, ohne für die eigene Geltung fürchten zu müssen."(11)

Nietzsche selbst stand spätestens seit 1874 Wagners Musik kritisch gegenüber, wie die parallel zur Vierten Unzeitgemäßen Betrachtung Richard Wagner in Bayreuth aufgezeichneten Beobachtungen zeigen. Worin bestand jedoch ganz konkret und objektiv die Kritik Nietzsches an der "Wagnerei"? Am besten läßt sich dies vielleicht aus Briefen(12)(13) Carl Fuchs zeigen:

"Das Wagnersche Wort ‚unendliche Melodie‘ drückt die Gefahr, den Verderb des Instinkts und den guten Glauben, das gute Gewissen dabei allerliebst aus. Die rhythmische Zweideutigkeit, so daß man nicht mehr weiß und wissen soll, ob etwas Schwanz oder Kopf ist, ist ohne allen Zweifel ein Kunstmittel, mit dem wunderbare Wirkungen erreicht werden können: der ‚Tristan‘ ist reich daran –, als Symptom einer ganzen Kunst ist und bleibt sie trotzdem das Zeichen der Auflösung. Der Teil wird Herr über das Ganze, die Phrase über die Melodie, der Augenblick über die Zeit (auch das tempo), das Pathos über das Ethos ... schließlich auch der esprit über den ‚Sinn‘."

"Dieses Beseelen, Beleben der kleinsten Redeteile der Musik (– ich möchte, Sie ... wendeten die Worte an, die jeder aus der Rhetorik kennt: Periode (Satz), Kolon, Komma, je nach der Größe, insgleichen Fragesatz, Konditionalsatz, Imperativ – denn die Phrasierungslehre ist schlechterdings das, was für Prosa und Poesie die Interpunktionslehre ist), – also: wir betrachteten diese Beseelung und Belebung der kleinsten Teile, wie sie in der Musik zur Praxis Wagners gehört und von da aus zu einem fast herrschenden Vortrags-System (selbst für Schauspieler und Sänger) geworden, mit verwandten Erscheinungen in anderen Künsten: es ist ein typisches Verfalls-Symptom, ein Beweis dafür, daß sich das Leben aus dem Ganzen zurückgezogen hat und im Kleinsten luxuriert. Die ‚Phrasierung‘ wäre demnach die Symptomatik eines Niedergangs der organisierenden Kraft: anders ausgedrückt: der Unfähigkeit, große Verhältnisse noch rhythmisch zu überspannen – eine Entartungsform des Rhythmischen ... [...] In dem Maße, in dem sich das Auge für die rhythmische Einzelform (‚Phrase‘) einstellt, wird es myops für die weiten, langen, großen Formen: genau wie in der Architektur des Berninismus. Eine Veränderung der Optik des Musikers – die ist überall am Werke: nicht nur in der rhythmischen Überlebendigkeit des Kleinsten, unsere Genußfähigkeit begrenzt sich immer mehr auf die delikaten kleinen sublimen Dinge ... folglich macht man nur auch noch solche – –"

Merkwürdigerweise zieht hier Nietzsche nicht den Rückschluß auf sich selbst – auch er selbst ist in der Prosa ein Meister der "Phrasierung", der kleinen Satzteile und deren Zuschärfung, insbesondere durch vielfältige Interpunktion – nicht umsonst lobt er den Aphorismus als seine ureigene Form! Diese Kritik an Wagner trifft so nicht zuletzt auch noch auf ihn selbst zu.

Daß aber diese Kritik an Wagner weder etwas an der grundsätzlichen Dankbarkeit Wagner gegenüber noch an seiner Faszination durch die Wagnersche Musik ändert, zeigen sein Aphorismus Sternenfreundschaft in der Fröhlichen Wissenschaft(14) ebenso wie seine wunderbare Ausdeutung der Meistersinger-Ouvertüre in Jenseits von Gut und Böse(15) noch im Jahre 1884/5, in der er "ein rechtes echtes Wahrzeichen der deutschen Seele" wiedererkennt: die Deutschen sind ihm "von vorgestern und von übermorgem – sie haben noch kein Heute".

Wie wir an Brahms schon gesehen haben, interessierte sich Nietzsche stets für die zeitgenössische Musik; so war insbesondere seine Klaviermusik – im Gegensatz zu seinen Liedkompositionen, die sich an Schumann orientierten – von den chromatischen Neuerungen Listzs, dem Schwiegervater Wagners, schon früh beeinflußt. Hören wir einen Ausschnitt aus der Manfred-Meditation (Reimann/Fischer-Dieskau am Klavier):

Manfred-Meditation (Ausschnitt) [endgültige Fassung von 1877]

Nietzsche war im Hause Wagner der Name Hans von Bülow nicht unbekannt geblieben – und so sandte er ihm seine "Geburt der Tragödie" zu (1872). Nach einem Besuch in Basel – Wagner bereitete sich bereits auf die endgültige Abreise nach Bayreuth vor – sah man sich in München wieder, wo Hans von Bülow auf Geheiß Ludwig II. und gegen den Willen Wagners Tristan und Isolde dirigierte.

Für "den erhabensten Kunsteindruck meines Lebens" dankend, nahm Nietzsche dies zum Anlaß, Hans von Bülow seine Manfred-Meditation zur Beurteilung vorzulegen. In einem selbstironischen Anschreiben nannte er seine Musik "zweifelhaft", gar "entsetzlich". Diese Selbstqualifizierung Nietzsches hielt Bülow jedoch nicht ab, eine ehrliche Antwort zu geben. Es handele sich um "das Extremste von phantastischer Extravaganz", das "Unerquicklichste und Antimusikalischste", was ihm seit langem zu Gesicht gekommen sei. Ob das Ganze ein Scherz sei, eine musikalische Parodie auf die "Zukunftsmusik"? Habe er mit Bewußtsein allen Regeln der Tonverbindung, der höheren Syntax wie der gewöhnlichen Rechtschreibung, Hohn gesprochen? Sein musikalisches Fieberprodukt sei in der Welt der Musik das gleiche wie ein Verbrechen in der moralischen Welt, die Muse der Musik, Euterpe, sei genotzüchtigt worden. Wenn er ihm einen guten Rat geben solle für den Fall, daß er "die Aberration ins Componiergebiet" wirklich ernst gemeint habe, dann möge er Vokalmusik komponieren, da könne das Wort "auf dem wilden Tonmeere" das Steuer führen. So sei seine Musik noch "entsetzlicher", als er es selbst meine: nämlich in höchstem Maße schädlich für ihn selbst. Immerhin sei in dem "musikalischen Fieberprodukte" bei aller Verirrung ein distinguierter Geist zu spüren, und in gewissem Sinne sei er selbst, mit der Aufführung des Tristan, indirekt daran schuldig, "einen so hohen und erleuchteten Geist wie den Ihrigen, verehrter Herr Professor, in so bedauerliche Klavierkrämpfe gestürzt zu haben."

Nietzsche besaß jedenfalls genügend Freimut, den Brief seinen Freunden mitzuteilen; die erste Reaktion auf den Verriß von Bülows steht in einem Brief an Freund Gustav Krug, der ebenfalls komponierte; über dessen und seine eigene Musik tauschte er sich in eben dieser Zeit brieflich mit ihm aus und schrieb unter dem 24.07.1872 an diesen aus Basel(16):

"... ich wenigstens habe wieder einmal für sechs Jahr das Musikmachen verschworen. ‚Der Ozean warf mich wieder einmal ans Land‘, im vorigen Winter, nämlich auf die Sandbank der Dir bekannten Kompositionen. Damit soll’s aber genug sein. Ich gerate, wie diese Kompositionen beweisen, in wahrhaft skandalöser Weise ins Phantastisch-Häßliche, ins Ungeziemend-Ausschweifende. Und ich erwartete von Deiner Seite, einigen Schimpf und Schmach davonzutragen. Solltest Du aber für Manfred eine wirkliche Art von Neigung haben, wie Dein Brief gütig genug war zu versichern, so warne ich Dich ganz ernsthaft, lieber Freund, vor dieser meiner schlechten Musik. Laß keinen falschen Tropfen in Deine Musikempfindung kommen, am wenigsten aus der barbarisierenden Sphäre meiner Musik. Ich bin ohne Illusionen – jetzt wenigstens.

Verlange nur von mir nichts Kritisches – ich habe keinen guten Geschmack und bin, in meinen musikal. Kenntnissen, recht heruntergekommen, kann auch, wie Du gesehn hast, gar nicht mehr orthographisch schreiben.– Ich bin jetzt nur soviel Musiker, als zu meinem philosophischen Hausgebrauche eben nötig ist."

Und an Erwin Rohde schrieb er: "Der Brief Bülows ist für mich unschätzbar in seiner Ehrlichkeit, lies ihn, lache mich aus und glaube mir, daß ich vor mir selbst in einen solchen Schrecken geraten bin, um seitdem kein Klavier anrühren zu können."(17)

Aber er konnte es nicht lassen, und so hat er auch dem Kapellmeister Friedrich Hegar seine Manfred-Meditation noch 1874 zugeschickt. Zur Rücksendung schrieb ihm dieser: "... ich hoffte immer, dieselbe persönlich zurückbringen und Ihnen bei dieser Gelegenheit sagen zu können, wie sehr mich vieles interessierte, namentlich die Art und Weise, wie Sie der zu Grunde liegenden Stimmung musikalisch Ausdruck zu geben versuchen. Freilich fehlt dem ganzen, was die Gestaltung der musikalischen Ideen anbetrifft, die Erfüllung gewisser architektonischer Bedingungen so, daß mir die Komposition mehr den Eindruck einer stimmungsvollen Improvisation als eines durchdachten Kunstwerks macht."(18)

Daß die Art und Weise dieses musikalischen Ausdrucks Nietzsches aber auch noch anders gesehen werden kann, bringt Fischer-Dieskau in seinem Vortrag zum Ausdruck:

"Nietzsches musikalische Begabung war jedoch ungeachtet solcher Meinung außerordentlich. Sie gehörte bestimmend zu seinem Wesen. So muß seine kunstpsychologische Analyse analog zu seinem Musiksinnen und zu seiner Freude an der Polyphonie gesehen werden. Sein Drang, in die Abgründe der Psyche zu leuchten, entspricht dem Willen eines Musikers, Seelenvorgänge ans Licht zu bringen, die einzig durch die Musik darstellbar erscheinen."

Gerade im Hinblick auf die Manfred-Komposition und die heftigen Reaktion von Bülows könnte man einwenden, es handele sich dabei um die "normale" Problematik, daß sich eine bestimmte Neuerung nicht oder noch nicht gegen eine andere jeweils sich zur Geltung bringende Richtung durchsetzen könne; dabei sollte man sich aber darüber im Klaren sein, daß sowohl Wagner als auch Nietzsche sich genau dieses Problems sehr wohl bewußt waren – ist dies doch der Stoff, aus dem die "Meistersinger" gemacht sind: Der Erneuerer Stolzing-Wagner gegen die Beckmesser-Konservativen und Klassizisten. Nietzsche selbst wäre niemals auf den Gedanken gekommen, gerade diesen Einwand für seine Kompositionsweise geltend zu machen; vielmehr war er sich der Genialität Wagners und des eigenen mangelhaften Vermögens in Hinblick auf Harmonielehre und Kontrapunktik und insbesondere auch der Unfähigkeit bewußt, mit seiner von der Stimmung getragenen Improvisationstechnik große musikalische Bögen zu überspannen. Hier helfen daher auch Verweise auf den die Chromatik revolutionierenden Liszt – bei dem sich bereits Wagner reichlich "bedient" hatte – oder vorwärtsgreifend auf Mahler nicht, denen weder diese kompositionstechnischen Fehler unterlaufen, und die im Gegensatz zu Nietzsche die große Form beherrschen. Im übrigen meine ich, daß selbst für einen Laien, wenn er einigermaßen mit der Musik des 18. und 19. Jahrhunderts vertraut ist, einige der von Bülow angemahnten Regelverstöße durchaus heraushörbar sind.

Der Musikwissenschaftler Janz, der neben der Biografie auch den musikalischen Nachlaß Nietzsches gesammelt und 1975 herausgegeben hat, urteilt über Nietzsches Kompositionen(19):

"Es wäre natürlich verfehlt, eine »Ehrenrettung« Nietzsches als Komponist anzustreben, dennoch darf festgehalten werden, daß es trotz gewisser, manchmal recht störender kompositionstechnischer Mängel ernstgemeinte und ernstzunehmende Werke sind, die weitab von einer bloßen spielerischen Liebhaberei liegen. Nietzsche bedient sich der Musik genau wie der Sprache: zur Bewältigung und Übermittlung geistiger und seelischer Gehalte, sie ist ihm Mittel der Kommunikation, und dabei gelingen ihm einige sogar sehr ansprechende Stücke. Die kompositionstechnischen Mängel sind die bedauerlichen Reste eines nicht systematisch durchgeführten autodidaktischen Studiums. Daß man es auch in der Musik bei zähem Fleiß mit autodidaktischem Lehrgang zu etwas bringen kann, haben seine ungefähr zeitgenössischen russischen, im sogenannten »Petersburger mächtigen Häuflein« zusammengeschlossenen Komponisten ... bewiesen. Und Nietzsche bewies es für das Gebiet der Philosophie, in der er ebenfalls Autodidakt war. Daß er dabei als Philosoph die ungleich größere Potenz darstellt denn als Musiker, bleibt natürlich außer Frage. Er hat aber auch in der Musik an Tiefe und Prägnanz des Ausdrucks dennoch manchen seiner »zünftigen« musikalischen Zeitgenossen mindestens erreicht, wobei es ein schwacher Trost bleibt, daß auch diese als zu wenig bedeutend neben einem Brahms und Schumann unserem Bewußtsein entschwunden sind.

Jenseits ihrer Mängel sind die Kompositionen und Kompositionsversuche Nietzsches aber von besonderem und hohem Wert für die Erhellung seines Grundwesens, das sich wirklich wie er es im Brief sagt – offenbart, und zwar in seinen einzelnen Facetten. ...

Schon C. A. Bernoulli hat nachdrücklich auf den lyrischen Grundzug im philosophischen Werk Nietzsches hingewiesen, noch ohne den kräftigsten Beweis, die lyrischen Kompositionen, zur Hand zu haben. Nach längerer Pause greift Nietzsche wieder die Großform der mehrteiligen Fantasie auf unter dem Obergedanken »Freundschaft«. Die Musik gerät ihm hier ebenso ins Pathetische wie seine Freundesbriefe, die Fantasien werden formlos, ja unförmig. Nietzsche scheitert in den »Freundschafts«-Kompositionen (Monodie, Manfred, Nachklang, Hymnus) genau so wie in den Freundschaften selber. ... In so verschiedene Phasen die Kompositionstätigkeit aufteilbar scheint, ein Grundzug hält alles, von den ersten Versuchen bis zum »Hymnus« zusammen: beinahe alle Kompositionen hat Nietzsche zu Geschenkzwecken oder Widmungen benutzt, die meisten sind sogar nur darum entstanden. Es sind ganz persönlich gerichtete Kundgebungen seiner Neigung und stehen darum in ihrem Wesen dem Brief näher als dem philosophischen Werk; sie haben einen durch die Art der Musik gegebenen gehobenen Aussagewert in einer durchaus persönlichen Weise. Obwohl sich Stileinflüsse verschiedener Komponisten aufzeigen lassen, wie Beethoven, Schumann, Chopin, Liszt, so eignet ihnen doch ein spezifischer Nietzschescher Zug der Melancholie. Auffallend ist das völlige Fehlen Wagnerscher Einwirkung. Die Dämonie und Gefühlsmächtigkeit Wagners blieb dem Musiker Nietzsche fremd, als Musiker war er nie »Wagnerianer«."

Lassen Sie uns nochmals auf den eingangs gehörten Hymnus auf die Freundschaft zurückkomen, dessen erste Erwähnung im Schreiben an Rohde(20) vom 5. Mai 1873 zu finden ist:

"Nun, so wollen wir denn unser Dasein weiterschleppen und den Vers meines Freundschaftshymnus singen, welcher anfängt "Freunde, Freunde! haltet fest zusammen!" Weiter habe ich das Gedicht doch noch nicht: doch der Hymnus selbst ist fertig. ... Ich dachte, es würden während des Briefschreibens einige Herren Studenten kommen, um zu meinem Collegio sich anzumelden. Denn es war meine Stunde; aber es ist keiner gekommen. Wehe! Wehe!"

Es war dies die Zeit nach dem Wilamowitz-Angriff auf die Geburt der Tragödie, was dazu führte, daß Nietzsches Vorlesungen in Basel zunächst gemieden wurden – und so nimmt es nicht Wunder, daß Nietzsche das Freundschaftsideal hochhält.

Ross(21) erläutert das weitere Schicksal des Hymnus: "Es ist Nietzsches letzte Komposition, als Geschenk für die Freunde und als ‚Bundeshymne‘ gedacht. Acht Jahre später, 1882, muß sie noch einmal herhalten: Lou Salomés Gedicht ‚Gebet an das Leben‘ – wiederum ein Hymnus, aber kein Bund mehr wird ihn gemeinsam singen oder spielen – wird mit Hilfe der Motive des Freundschaftsliedes vertont."

Nietzsche hatte sich verliebt – bekanntlich ist dies, wie wir spätestens seit Goethe wissen, den schöpferischen Kräften oft förderlich, und so ist Nietzsche Feuer und Flamme, ein Gedicht von Lou Salomé, deren "Lebensgebet", zu vertonen, in dem er zu diesem Zeitpunkt seine eigene Philosophie wiederzuerkennen meint. Um den 16. September 1882 schreibt er aus Leipzig an Lou(22):

"Inzwischen hat der Prof. Riedel hier, der Präsident des deutschen Musik-Vereins, für meine ‚heroische Musik‘ (ich meine Ihr ‚Lebens-Gebet‘) Feuer gefangen – er will es durchaus haben, und es ist nicht unmöglich, daß er es für seinen herrlichen Chor (einen der ersten Deutschlands, ‚der Riedelsche Verein‘ genannt) zurecht macht. Das wäre so ein kleines Weglein, auf dem wir beide zusammen zur Nachwelt gelangten – andere Wege vorbehalten."(23)(24)

Lebensgebet Lou Salomé – Nietzsche (Fassung für Klavier und Alt, 1. Vers)

Nachdem die Lou-Episode bald darauf unter schweren Verstimmungen zu Ende gegangen war, schickte er 1884 seinen Hymnus an Peter Gast mit den Worten: "...Diesmal kommt ‚Musik‘ zu Ihnen. Ich möchte gern ein Lied gemacht haben, welches auch öffentlich vorgetragen werden könnte, – ‚um die Menschen zu meiner Philosophie zu verführen‘."(25)

Und 1887 schreibt er an Gast aus Nizza(26), nachdem der Hymnus bei Fritzsch gedruckt worden war: "Die Partitur hat mir übrigens großes Vergnügen gemacht ... Im Grunde ist es die ‚eleganteste‘ Partitur, die ich bis jetzt gesehen habe; und daß Fritzsch wirklich die Stimmen dazu hat herstellen lassen ..., freut mich: es verrät seinen Glauben an die Aufführbarkeit des Hymnus. Oh alter lieber Freund, was haben Sie sich damit um mich ‚verdient gemacht‘! Diese kleine Zugehörigkeit zur Musik und beinahe zu den Musikern, für welche dieser Hymnus Zeugnis ablegt, ist in Hinsicht auf ein einstmaliges Verständnis jenes psychologischen Problems, das ich bin, ein unschätzbarer Punkt... Auch hat der Hymnus etwas von Leidenschaft und Ernst an sich und präzisiert wenigstens einen Hauptaffekt unter den Affekten, aus denen meine Philosophie gewachsen ist. Zuallerletzt: er ist etwas für Deutsche, ein Brückchen, auf dem vielleicht sogar diese schwerfällige Rasse dazu gelangen kann, sich für eine ihrer seltsamsten Mißgeburten zu interessieren.– "

Auch glaubt er, mit seinem Hymnus ein Beispiel für die von ihm geforderte "südliche Sinnlichkeit" einer künftigen "Zarathustra-Musik" geliefert zu haben, deren "Leichtigkeit" und Melodiefreudigkeit er betont und insbesondere in den Kompositionen seines Freundes Peter Gast findet. Sehr erhellend in Bezug auf die Wirkung des Hymnus ist ein Bericht des letzteren an Nietzsche (1887)(27), der zwei Italienern diesen ohne Kenntnisgabe des Textes vorspielte; Nietzsche wähnte darin ja eine "gegenromantische, überchristliche, mittelmeerisch ‚bösere‘ Musik" zu geben. Da rief der eine aus: "Magnifico! ... Questa è la vera musica ecclesiastica!" Gast "verbat sich jedoch dieses ‚ecclesiastica‘ und übersetzte ihnen den Text; da meinte der eine, das hätte er allerdings nicht gedacht – ihm hätte der Calvarienberg mit seinen sieben Leidensstationen vorgeschwebt!!" –

An Hans von Bülow wagt Nietzsche unter Bezugnahme auf dessen Manfred-Verriß am 22.10.1887 das Folgende zu schreiben(28):

"Verehrtester Herr, es gab eine Zeit, wo Sie über ein Stück Musik von mir das allerberechtigste Todesurteil gefällt haben, das in rebus musicis et musicantibus möglich ist. Und nun wage ich es trotz alledem, Ihnen noch einmal etwas zu übersenden – einen Hymnus auf das Leben, von dem ich um so mehr wünsche, daß er leben bleibt. Er soll einmal, in irgendwelcher nahen oder fernen Zukunft, zu meinem Gedächtnisse gesungen werden, zum Gedächtnisse eines Philosophen, der keine Gegenwart gehabt hat und eigentlich nicht einmal hat haben wollen. Verdient er das?...

Zu alledem wäre es möglich, daß ich in den letzten zehn Jahren auch als Musiker etwas gelernt hätte.

Ihnen, verehrtester Herr, in alter unveränderlicher Gesinnung zugetan Dr. Fr. Nietzsche"

Und an Georg Brandes, der mit Universitätsvorlesungen gerade Nietzsches Philosophie in Skandinavien bekannt machte, schreibt er aus Turin(29) unter dem 04.05.1888:

"Der ‚Hymnus auf das Leben‘ wird dieser Tage seine Reise nach Kopenhagen antreten. Wir Philosophen sind für nichts dankbarer, als wenn man uns mit den Künstlern verwechselt. Man versichert mich übrigens von seiten der ersten Sachverständigen, daß der Hymnus durchaus aufführbar, singbar, und in Hinsicht auf Wirkung sicher sei (– rein im Satz: dies Lob hat mir am meisten Freude gemacht). Der vortreffliche Hofkapellmeister Mottl von Karlsruhe (Sie wissen, der Dirigent der Bayreuther Festaufführungen) hat mir eine Aufführung in Aussicht gestellt.– "

Der folgende letzte Brief an von Bülow(30) bezog sich gleichzeitig auf den Wunsch Nietzsches, dieser möge für eine Popularisierung der Musik von P. Gast einsetzen – und dieser Brief von 09.10.1888 aus Turin ist nun wirklich schon sehr bedenklich:

"Verehrter Herr! Sie haben auf meinen Brief nicht geantwortet. Sie sollen ein für allemal vor mir Ruhe haben, das verspreche ich Ihnen. Ich denke, Sie haben einen Begriff davon, daß der erste Geist des Zeitalters Ihnen einen Wunsch ausgedrückt hatte. Friedrich Nietzsche"

Es wäre hier noch manches Weitere anzubringen:

– Etwa das Verhältnis Nietzsches zu seinem "Maestro" Peter Gast (Heinrich Köselitz), der bei ihm einst als Student in Basel gehört hatte und selbst erfolglos komponierte, dessen Musik von Nietzsche – wohl nicht ganz uneigennützig – gelobt wurde, da ihm dieser insbesondere zur Reinschrift seiner Druckmanuskripte unersetzlich war. Allerdings setzte sich Nietzsche auch sehr für seinen Freund ein, um dessen Kompositionen zur Aufführung zu bringen.(31)

– Seine oft sehr subjektiven und polemischen Invektiven, insbesondere gegen den "süßlichen Sachsen" Schumann(32), obwohl er selbst ihm musikalisch ja sehr nahe stand – und noch im Jahre 1865 im Brief an seine Schwester dessen "Faustmusik" als "eine seiner liebsten Sachen" bezeichnet hatte.(33)

– Oder die bedenkliche Veränderung des Nietzscheschen Musikgeschmacks am Ende seiner hellen Tage, als ihn gar Operetten zu Tränen rührten ... – an dieser Stelle wäre dann der spätestens seit Mitte 1888 einsetzende Einfluß von Nietzsches Krankheit auf seine Realitätswahrnehmung zu diskutieren, der sich in der zunehmenden Euphorisierung seiner Äußerungen zeigt. Und doch: selbst noch am 27. Dezember 1888 – wenige Tage vor "Überschreiten des Rubico" – kann er völlig klarsichtig, wiederum an Carl Fuchs(34) schreiben: "... Das, was ich über Bizet sage, dürfen sie nicht ernst nehmen; so wie ich bin, kommt Bizet tausendmal für mich nicht in Betracht. Aber als ironische Antithese gegen Wagner wirkt es sehr stark; ... Den Tristan umgehn Sie ja nicht: er ist das kapitale Werk und von einer Faszination, die nicht nur in der Musik, sondern in allen Künsten ohnegleichen ist."

Zuletzt möchte ich diese oft zitierte – allerdings, wie gerade gehört, nicht ganz ernstgemeinte – Gegenüberstellung von Bizet und Wagner zur Eigenlektüre empfehlen; denn in der Schrift Der Fall Wagner verbindet Nietzsche auf seine unnachahmliche Weise Musikkritik und Interpretation, philosophische Aussagen und Geschmacksurteile mit hinreißender Polemik. Hier beschränke ich mich zum Abschluß auf einen kurzen Ausschnitt von deren Nachschrift(35):

Die Musik als Circe... Sein [Wagners] letztes Werk ist hierin sein größtes Meisterstück. Der Parsifal wird in der Kunst der Verführung ewig seinen Rang behalten, als der Geniestreich der Verführung... Ich bewundere dies Werk, ich möchte es selbst gemacht haben; in Ermangelung davon verstehe ich es... Wagner war nie besser inspiriert als am Ende. Das Raffinement im Bündnis von Schönheit und Krankheit geht hier so weit, daß es über Wagners frühere Kunst gleichsam Schatten legt – sie erscheint zu hell, zu gesund. Versteht ihr das? Die Gesundheit, die Helligkeit als Schatten wirkend? als Einwand beinahe?... So weit sind wir schon reine Toren... Niemals gab es einen größeren Meister in dumpfen, hieratischen Wohlgerüchen – nie lebte ein gleicher Kenner alles kleinen Unendlichen, alles Zitternden und Überschwänglichen, aller Feminismen aus dem Idiotikon des Glücks! – Trinkt nur, meine Freunde, die Philtren dieser Kunst! Ihr findet nirgends eine angenehmere Art, euren Geist zu entnerven, eure Männlichkeit unter einem Rosengebüsche zu vergessen... Ah dieser alte Zauberer! Dieser Klingsor aller Klingsore! Wie er uns damit den Krieg macht! uns, den freien Geistern! Wie er jeder Feigheit der modernen Seele mit Zaubermädchen-Tönen zu willen redet! – Es gab nie einen solchen Todhaß auf die Erkenntnis! – Man muß Zyniker sein, um hier nicht verführt zu werden, man muß beißen können, um hier nicht anzubeten. Wohlan, alter Verführer! Der Zyniker warnt dich – cave canem...

Anmerkungen:

(1) Nachdenkenswert die Überlegung von Bertram: "Nietzsche [ist] ganz und gar der Enkel der lutherischen Reformation, welche ... dem deutschen Menschen die heitere Augenfreudigkeit seines Mittelalters geraubt hat und ihn dafür mit dem Heimweh des Ohres, dem unstillbaren und jenseitigen Durst nach Musik beschenkte." aus: Ernst Bertram, Nietzsche – Versuch einer Mythologie, Erstauflage 1918, 10. Auflage 1989, S. 51
Thomas Mann, der mit Bertram befreundet war, sagte noch 1948 (!) zu diesem Buch: "Es wird wieder aufgelegt werden, noch oft, und immer bewundert werden. Es erträgt das Licht jedes Tages ..." Er sollte Recht – jedenfalls bis heute – behalten...

(2) zitiert nach Bertram, Nietzsche, S. 113

(3) "Das Leben ohne Musik ist einfach ein Irrtum, eine Strapaze, ein Exil." – an Gast 1888 (zitiert nach Bertram, Nietzsche, S. 130)

(4) Werner Ross, Der ängstliche Adler, Friedrich Nietzsches Leben, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1980, S. 404

(5) Schlechta, F. N. Werke IV, Briefe S. 603

(6) An Gustav Krug aus Basel, 13. Nov. 71 (Schlechta, F. N. Werke IV, Briefe S. 639):
... Inzwischen ist ein sonderbares Opus fertig geworden, gleichsam aus der Luft gefallen. Das erste Motiv war nur, etwas von meinen früheren Sachen vierhändig zuzurichten, so daß ich es mit meinem Kollegen Overbeck zu spielen vermöchte. Ich verfiel auf jene "Silvesternacht": aber kaum hatte ich das Notenpapier gekauft, so verwandelte sich alles unter meinen Händen, und von dem ersten Takte an ist es etwas völlig Neues geworden. Der lange Titel dieses vierhändigen Satzes, dessen Ausführung 20 Minuten dauert, lautet: "Nachklang einer Silvesternacht, mit Prozessionslied, Bauerntanz und Mitternachtsglocke".–
Du weißt, wie erstaunt ich war, Dich noch bei frischer Komponierstimmung anzutreffen, und ich kam mir wer weiß wie verwelkt oder auch "weise" vor, daß ich darin mich seit 6 Jahren resigniert hatte. Und nun hinterdrein! Du siehst, was Dein Beispiel an mir gefruchtet hat! Im übrigen bin ich jetzt, wo ich das Werk hinter mir habe, fast auf dem früheren Punkte und denke nicht daran weiter zu komponieren: weshalb ich sagte, diese Komposition sei aus der Luft gefallen. Jedenfalls klingt sie gut: sie hat etwas Populäres, gerät nie ins Tragische, wenn auch ins Ernste und Wehmütige. Mitunter ist sie triumphierend, ja auch schmerzlich ausgelassen, kurz – wenn Du Dich unserer Ferienstimmungen erinnern willst, der Spaziergänge über den Knabenberg, bis auf "das Ding an sich", so wirst Du eine Exemplifikation dieser "dionysischen Manifestation" haben. Das Ganze ist auf wenig Themen aufgebaut, in der Tonfarbe freilich orchsestral, ja förmlich gierig nach Orchestration, aber Du weißt – hier kann ich nicht mehr mit. Die Geburtstage sind der 1te bis 7te November: es ist ein so reinliches Manuskript, daß ich mit Overbeck es immer aus der ersten Niederschrift bis jetzt gespielt habe. Jetzt schreibe ich es nochmal ab, um meiner ausgezeichneten und verehrten Freundin, Frau Cosima W., in Geburtstagsgeschenk machen zu können.

(7) Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit E. Rohde, Hg. v. E. Förster-Nietzsche und Fr. Schöll, Insel-Verlag Leipzig 1902, S. 277, ca. 20. Dezember 1871

(8) C. P. Janz, Nietzsche, C. Hanser Verlag, München Wien 1978, Bd. I, S. 427 f.

(9) Briefwechsel mit Rohde, S. 464

(10) Janz I, S. 585 f.

(11) Welche Meinung sich Nietzsche schließlich zu Brahms gebildet hatte, gibt er im Fall Wagner kund (Zweite Nachschrift, Nietzsche, Werke II, Hg. Frenzel, S. 316 f.): "Was liegt noch an Johannes Brahms!... Sein Glück war ein deutsches Mißverständnis: man nahm ihn als Antagonisten Wagners – man brauchte einen Antagonisten! – Das macht keine notwendige Musik, das macht vor allem zu viel Musik! – Wenn man nicht reich ist, soll man stolz genug sein zur Armut!... Die Sympathie, die Brahms unleugbar hier und da einflößt, ganz abgesehen von jenem Partei-Interesse, Partei-Mißverständnisse, war mir lange ein Rätsel: bis ich endlich, durch einen Zufall beinahe, dahinterkam, daß er auf einen bestimmten Typus von Menschen wirkt. Er hat die Melancholie des Unvermögens; er schafft nicht aus der Fülle, er durstet nach der Fülle. Rechnet man ab, was er nachmacht, was er großen alten oder exotisch-modernen Stilformen entlehnt – er ist Meister in der Kopie –, so bleibt als sein Eigenstes die Sehnsucht... Das erraten die Sehnsüchtigen, die Unbefriedigten aller Art. Er ist zu wenig Person, zu wenig Mittelpunkt... Das verstehen die »Unpersönlichen«, die Peripherischen, – sie lieben ihn dafür. Insonderheit ist er der Musiker einer Art unbefriedigter Frauen. Fünfzig Schritt weiter: und man hat die Wagnerianerin – ganz wie man fünfzig Schritt über Brahms hinaus Wagner findet –, die Wagnerianerin, einen ausgeprägteren, interessanteren, vor allem anmutigeren Typus. Brahms ist rührend, solange er heimlich schwärmt oder über sich trauert – darin ist er »modern« –: er wird kalt, er geht uns nichts mehr an, sobald er die Klassiker beerbt..."
So sehr mir diese "Psychologie" Brahms‘ nachvollziehbar scheint, wird sie ihm doch nicht vollständig gerecht, wenn man etwa an ein Werk wie dessen Violinkonzert denkt.

(12) Im Winter 1884/1885 schreibt er an den Musiker Carl Fuchs aus Nizza (Schlechta, FN Werke IV, S. 817):
"Das letzte, was ich mir gründlich angeeignet habe, ist Bizets Carmen – und nicht ohne viel, zum Teil ganz unerlaubte Hintergedanken über alle deutsche Musik (über welche ich beinahe so urteile wie über alle deutsche Philosophie); außerdem die Musik eines unentdeckten Genies, welches den Süden liebt, wie ich ihn liebe, und zur Naivität des Südens das Bedürfnis und die Gabe der Melodie hat. Der Verfall des melodischen Sinns, den ich bei jeder Berührung mit deutschen Musikern zu riechen glaube, die immer größere Aufmerksamkeit auf die einzelne Gebärde des Affekts ..., ebenfalls die immer größere Fertigkeit im Vortrage des einzelnen, in den rhetorischen Kunstmitteln der Musik, in der Schauspieler-Kunst, den Moment so überzeugend wie möglich zu gestalten: das, scheint mir, verträgt sich nicht nur miteinander, es bedingt sich beinahe gegenseitig. Schlimm genug! muß man eben alles Gute in dieser Welt etwas zu teuer kaufen! Das Wagnersche Wort ‚unendliche Melodie‘ drückt die Gefahr, den Verderb des Instinkts und den guten Glauben, das gute Gewissen dabei allerliebst aus. Die rhythmische Zweideutigkeit, so daß man nicht mehr weiß und wissen soll, ob etwas Schwanz oder Kopf ist, ist ohne allen Zweifel ein Kunstmittel, mit dem wunderbare Wirkungen erreicht werden können: der ‚Tristan‘ ist reich daran –, als Symptom einer ganzen Kunst ist und bleibt sie trotzdem das Zeichen der Auflösung. Der Teil wird Herr über das Ganze, die Phrase über die Melodie, der Augenblick über die Zeit (auch das tempo), das Pathos über das Ethos (Charakter, Stil, oder wie es heißen soll –) schließlich auch der esprit über den ‚Sinn‘. Verzeihung! was ich wahrzunehmen glaube, ist eine Veränderung der Perspektive: man sieht das Einzelne viel zu scharf, man sieht das Ganze viel zu stumpf – und man hat den Willen zu dieser Optik in der Musik, vor allem man hat das Talent dazu! Das aber ist decadence, ein Wort, das, wie sich unter uns von selbst versteht, nicht verwerfen, sondern nur bezeichnen soll."

(13) Schlechta, FN Werke IV, S. 904 f.; am 26. August 1888 aus Sils. Mit C. Fuchs diskutierte Nietzsche brieflich insbesondere über den Unterschied zwischen antiker und moderner Rhythmik, woraus sich auch heute noch mancher Schluß ziehen lassen möchte.

(14) Fr. Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft Nr. 279, Kröner Verlag Stuttgart, 6. Aufl. 1976, S. 183
Sternen-Freundschaft. – Wir waren Freunde und sind uns fremd geworden. Aber das ist recht so, und wir wollen's uns nicht verhehlen und verdunkeln, als ob wir uns dessen zu schämen hätten. Wir sind zwei Schiffe, deren jedes sein Ziel und seine Bahn hat; wir können uns wohl kreuzen und ein Fest miteinander feiern, wie wir es getan haben, – und dann lagen die braven Schiffe so ruhig in einem Hafen und in einer Sonne, daß es scheinen mochte, sie seien schon am Ziele und hätten ein Ziel gehabt. Aber dann trieb uns die allmächtige Gewalt unserer Aufgabe wieder auseinander, in verschiedene Meere und Sonnenstriche, und vielleicht sehen wir uns nie wieder – vielleicht auch sehen wir uns wohl, aber erkennen uns nicht wieder: die verschiedenen Meere und Sonnen haben uns verändert! Daß wir uns fremd werden müssen, ist das Gesetz über uns: eben dadurch sollen wir uns auch ehrwürdiger werden! Eben dadurch soll der Gedanke an unsere ehemalige Freundschaft heiliger werden! Es gibt wahrscheinlich eine ungeheure unsichtbare Kurve und Sternenbahn, in der unsere so verschiedenen Straßen und Ziele als kleine Wegstrecken einbegriffen sein mögen – erheben wir uns zu diesem Gedanken! Aber unser Leben ist zu kurz und unsre Sehkraft zu gering, als daß wir mehr als Freunde im Sinne jener erhabenen Möglichkeit sein könnten. – Und so wollen wir an unsre Sternen-Freundschaft glauben, selbst wenn wir einander Erden-Feinde sein müßten.

(15) Jenseits von Gut und Böse Nr. 240, Fr. Nietzsche, Werke II, Hg. Ivo Frenzel, Hanser Verlag München, S. 128
Ich hörte, wieder einmal zum ersten Male – Richard Wagners Ouvertüre zu den Meistersingern: das ist eine prachtvolle, überladne, schwere und späte Kunst, welche den Stolz hat, zu ihrem Verständnisse zwei Jahrhunderte Musik als noch lebendig vorauszusetzen – es ehrt die Deutschen, daß sich ein solcher Stolz nicht verrechnete! Was für Säfte und Kräfte, was für Jahreszeiten und Himmelsstriche sind hier nicht gemischt! Das mutet uns bald altertümlich, bald fremd, herb und überjung an, das ist ebenso willkürlich als pomphaft-herkömmlich, das ist nicht selten schelmisch, noch öfter derb und grob –das hat Feuer und Mut und zugleich die schlaffe falbe Haut von Früchten, welche zu spät reif werden. Das strömt breit und voll: und plötzlich ein Augenblick unerklärlichen Zögerns, gleichsam eine Lücke, die zwischen Ursache und Wirkung aufspringt, ein Druck, der uns träumen macht, beinahe ein Alpdruck –, aber schon breitet und weitet sich wieder der alte Strom von Behagen aus, von vielfältigstem Behagen, von altem und neuem Glück, sehr eingerechnet das Glück des Künstlers an sich selber, dessen er nicht Hehl haben will, sein erstauntes glückliches Mitwissen um die Meisterschaft seiner hier verwendeten Mittel, neuer neuerworbener unausgeprobter Kunstmittel, wie er uns zu verraten scheint. Alles in allem keine Schönheit, kein Süden, nichts von südlicher feiner Helligkeit des Himmels, nichts von Grazie, kein Tanz, kaum ein Wille zur Logik; eine gewisse Plumpheit sogar, die noch unterstrichen wird, wie als ob der Künstler uns sagen wollte: »sie gehört zu meiner Absicht«; eine schwerfällige Gewandung, etwas Willkürlich-Barbarisches und Feierliches, ein Geflirr von gelehrten und ehrwürdigen Kostbarkeiten und Spitzen: etwas Deutsches, im besten und schlimmsten Sinn des Wortes, etwas auf deutsche Art Vielfaches, Unförmliches und Unausschöpfliches; eine gewisse deutsche Mächtigkeit und Überfülle der Seele, welche keine Furcht hat, sich unter die Raffinements des Verfalls zu verstecken – die sich dort vielleicht erst am wohlsten fühlt; ein rechtes echtes Wahrzeichen der deutschen Seele, die zugleich jung und veraltet, übermürbe und überreich noch an Zukunft ist. Diese Art Musik drückt am besten aus, was ich von den Deutschen halte: sie sind von vorgestern und von übermorgen – sie haben noch kein Heute.

(16) Schlechta, FN Werke IV, S. 661

(17) Auch im Entwurf eines Antwortbriefes an von Bülow vom Oktober 1872 zeigt sich Nietzsche reuig:
"Dabei ist mir nun leider klar, daß das Ganze samt dieser Mischung von Pathos und Bosheit, einer wirklichen Stimmung absolut entsprach und daß ich an der Niederschrift ein Vergnügen empfand, wie bei nichts Früherem. Es steht demnach recht traurig um meine Musik und noch mehr um meine Stimmungen. Wie bezeichnet man einen Zustand, in dem Lust, Verachtung, Übermut, Erhabenheit durcheinandergeraten sind? – Hier und da verfalle ich in dies gefährliche mondüschtige Gebiet.– ... Von meiner Musik weiß ich nur eins, daß ich damit Herr über eine Stimmung werde, die, ungestillt, vielleicht schädlicher ist. ... Und gerade diese verzweifelte Kontrapunktik muß mein Gefühl in dem Grade verwirrt haben, daß ich absolut urteilslos geworden war. ... – ein höchst bedauerlicher Zustand, aus dem Sie mich jetzt gerettet haben. Haben Sie Dank!" (Schlechta, FN Werke IV, S. 667 f.)

(18) Janz I, S. 580

(19) Janz I, S. 598 ff.

(20) Briefwechsel mit Rohde, S. 407 f.

(21) Ross, S. 219

(22) Schlechta, FN Werke IV, S. 781

(23) Friedrich Nietzsche – Paul Rée – Lou von Salomé, Die Dokumente ihrer Begegnung, Hg. E. Pfeiffer, Insel Verlag, Frankfurt/M. 1970, S. 231
Nietzsche war vom 7.-26. August 1882 zusammen mit Lou in Tautenburg, wo sie sich, wenn es die Gesundheit Nietzsches zuließ, fast täglich trafen und intensiv philosophische Themen diskutierten. Das Gedicht hatte Nietzsche von Lou beim Abschied erhalten, entstanden ist es aber bereits etwas früher bei der Ankunft in Zürich, nachdem Lou ihre russische Heimat verlassen hatte. Wie Nietzsche Lou mit Brief vom 1. September mitteilt, hat er das Gedicht in Naumburg sogleich komponiert, und zwar nur die ersten beiden Verse, wobei er das Versmaß, geringfügig veränderte, um es seinem Hymnus an die Freundschaft anzupassen. Hier der Text des Gebets an das Leben von Lou Salomé, das Nietzsche mit seinem Hymnus vertonte (links die Originalfassung Lous, rechts der von Nietzsche angepaßte Text):

Gewiß, so liebt ein Freund den Freund,
Wie ich Dich liebe, Rätselleben –
Ob ich in Dir gejauchzt, geweint,
Ob Du mir Glück, ob Schmerz gegeben.

Ich liebe Dich samt Deinem Harme;
Und wenn Du mich vernichten mußt,
Entreiße ich mich Deinem Arme,
Wie Freund reißt sich von Freundesbrust.

Mit ganzer Kraft umfaß ich Dich!
Laß Deine Flammen mich entzünden,
Laß noch in Glut des Kampfes mich
Dein Rätsel tiefer nur ergründen.

Jahrtausende zu sein! zu denken!
Schließ mich in beide Arme ein:
Hast Du kein Glück mehr mir zu schenken –
Wohlan – noch hast Du Deine Pein.

Gewiß, so liebt ein Freund den Freund,
Wie ich Dich liebe, rätselvolles Leben!
Ob ich in Dir gejauchzt, geweint,
Ob Du mir Leid, ob du mir Lust gegeben.

Ich liebe Dich mit Deinem Glück und Harme;
Und wenn Du mich vernichten mußt,
Entreiße ich schmerzvoll mich Deinem Arme,
Gleich wie der Freund der Freundesbrust.

1887 schließlich stellte Peter Gast für Nietzsche eine Fassung für Chor und Orchester her, in der alle Verse vertont wurden; diese Fassung schickte er später an von Bülow, ohne den Bearbeiter Gast zu erwähnen.

(24) Friedrich Nietzsche – Paul Rée – Lou von Salomé, Die Dokumente ihrer Begegnung, S. 233: "In der That, der Riedelsche Verein wird das ‚Lebensgebet‘ zur Aufführung bringen; Prof. Riedel ist äußerst davon eingenommen und arbeitete es eben für 4 stimmigen Chor um ... Über die Musik selbst schrieb Köselitz zuletzt noch: ‚ganz Manfred, groß, machtvoll, aber unheimlich‘. (das heißt: er mag sie nicht.)"

(25) zitiert nach Bertram, Nietzsche, S. 114

(26) Schlechta, FN Werke IV, S. 858

(27) zitiert nach Bertram, Nietzsche, S. 128

(28) Schlechta, FN Werke IV, S. 857

(29) Schlechta, FN Werke IV, S. 883

(30) Schlechta, FN Werke IV, S. 912

(31) Im Oktober 1882 aus Leipzig an Overbeck (Schlechta, F. N. Werke IV, Briefe S. 785 f.):
"Was Köselitz (oder vielmehr Herrn ‚Peter Gast‘) betrifft, so ist hier mein zweites Wunder dieses Jahres. Während Lou für den bisher fast verschwiegenen Teil meiner Philosophie vorbereitet ist wie kein anderer Mensch, ist Köselitz die tönende Rechtfertigung für meine ganze neue Praxis und Wiedergeburt – um einmal ganz egoistisch zu reden. Hier ist ein neuer Mozart – ich habe keine andere Empfindung mehr: Schönheit, Herzlichkeit, Heiterkeit, Fülle, Erfindungs-Überfluß und die Leichtigkeit der kotrapunktischen Meisterschaft – das fand ich noch nie so zusammen, ich mag bereits gar keine andere Musik mehr hören. Wie arm, künstlich und schauspielerisch klingt mir jetzt die ganze Wagnerei."

(32) "Was aber Robert Schumann angeht, der es schwer nahm und von Anfang an auch schwergenommen worden ist – es ist der letzte, der eine Schule gegründet hat-: gilt es heute unter uns nicht als ein Glück, als ein Aufatmen, als eine Befreiung, daß gerade diese Schumannsche Romantik überwunden ist? Schumann, in die »Sächsische Schweiz« seiner Seele flüchtend, halb Wertherisch, halb Jean-Paulisch geartet, gewiß nicht Beethovenisch! gewiß nicht Byronisch! – seine Manfred-Musik ist ein Mißgriff und Mißverständnis bis zum Unrechte –, Schumann mit seinem Geschmack, der im Grunde ein kleiner Geschmack war (nämlich ein gefährlicher, unter Deutschen doppelt gefährlicher Hang zur stillen Lyrik und Trunkenboldigkeit des Gefühls), beständig beiseite gehend, sich scheu verziehend und zurückziehend, ein edler Zärtling, der in lauter anonymem Glück und Weh schwelgte, eine Art Mädchen und noli me tangere von Anbeginn: dieser Schumann war bereits nur noch ein deutsches Ereignis in der Musik, kein europäisches mehr, wie Beethoven es war, wie, in noch umfänglicherem Maße, Mozart es gewesen ist – mit ihm drohte der deutschen Musik ihre größte Gefahr, die Stimme für die Seele Europas zu verlieren und zu einer bloßen Vaterländerei herabzusinken." [Jenseits von Gut und Böse Nr. 245, Fr. Nietzsche, Werke II, Hg. Ivo Frenzel, Hanser Verlag München, S. 134.]

(33) Schlechta, F. N. Werke IV, Briefe S. 547

(34) Schlechta, F. N. Werke IV, Briefe S. 939

(35) Nietzsche, Der Fall Wagner, Nachschrift, aus: Werke in 2 Bd., Hg. Ivo Frenzel, II, 314


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