Thomas Mann und Friedrich Nietzsche

Rede zur Feier des 80. Geburtstages von Nietzsche 1924

sowie Zitate aus der Doktor-Faustus-Zeit
aus der Rede über Deutschland und die Deutschen von 1947

sowie die Rede "Nietzsche's Philosophie im Lichte unserer Erfahrung"
bei der PEN-Club-Tagung in Zürich am 2. Juni 1947


Neuerscheinung der Nietzsche-Rede von 1947


REDE

gehalten zur Feier des 80. Geburtstages Friedrich Nietzsches

am 15. Oktober 1924

von

THOMAS MANN

Die Feier, welche von der Nietzsche – Gesellschaft veranstaltet wurde, fand statt am 4. November 1924 im Odeon zu München. Nach einem Choral-Vorspiel von Job. Seb. Bach hielt Thomas Mann die nachfolgende Ansprache. Darauf spielte Prof. Edwin Fischer die Beethoven-Sonate c-moll op. 111, Händel, Suite d-moll und Chopin Balladen g-moll und As-dur

Meine Damen und Herren, seien Sie im Voraus versichert, daß das spröde Wort die Sprache der Töne nicht lange unterbrechen soll. Mein Auftrag geht nicht dahin – und ich danke Gott dafür –, hier etwas zu bieten, was im Entferntesten einem Vortrag, einer literarisch-kritischen "Conférence" über Nietzsche ähnlich sähe. Er nimmt Rücksicht auf die seelische Tatsache, daß unsere ordnenden Fähigkeiten versagen, daß tiefe Hemmungen uns das Wort im Munde stocken lassen bei dem Versuch, in gesellschaftlicher Öffentlichkeit einen Gegenstand rednerisch zu erörtern, formal zu bewältigen, der eines der Grunderlebnisse unseres Geistes, ein Erlebnis von unendlich bestimmender, von prägender Wirkung bildet. Nein, der Auftrag, dem ich mich allenfalls unterziehen konnte, verlangt nichts weiter von mir, als Ihnen mit wenig Worten den Sinn unserer heutigen Veranstaltung zu erläutern, den Gedanken oder das Gefühl anzudeuten, das ihr zu Grunde liegt und ihre Form rechtfertigt.

Zu sagen aber, weshalb wir beschlossen, das Andenken des kühnen, prophetisch regierenden und erzieherischen Geistes, in dessen Namen wir versammelt sind, nicht mit Reden, sondern mit Musik zu begehen, heißt zugleich bekennen, was er uns heute bedeutet, in welchem Punkte namentlich wir ihn, eben jetzt, eben in dieser deutschen und europäischen Stunde, als unsern sittlichen Meister empfinden.

Er hat die Musik geliebt wie keiner: wir sagen es zur Rechtfertigung unseres Beschlusses. Er war ein Musiker. Keine andere Kunst stand seinem Herzen nahe wie diese; jede andere trat weit zurück in seiner wissenden Teilnahme hinter diese. Er unterschied zwischen Augenmenschen und Ohrenmenschen und rechnete sich zu den letzteren. Über bildende Kunst hat er sich kaum geäußert und offenbar keine seiner großen Stunden mit ihr gefeiert. Sprache und Musik waren das Feld seiner Erlebnisse, seiner Liebes- und Erkenntnisabenteuer und seiner Produktivität. Seine Sprache selbst ist Musik und bekundet eine Feinheit des inneren Gehörs, eine Meisterschaft des Sinnes für Fall, Tempo, Rhythmus der scheinbar ungebundenen Rede, wie er in deutscher Prosa, und wahrscheinlich in europäischer überhaupt, bisher ohne Beispiel war. Nicht nur die Verwandtschaft und innere Zusammengehörigkeit von Kritik und Lyrik ist es, was das Phänomen Nietzsche, dies Phänomen des Erkenntnislyrikers erweist; es zeigt zugleich auf eine genial-persönliche und schöpferisch fortwirkende Weise die eigentümlichste Zusammengehörigkeit und innere Einheit von Kritik und Musik. Kritik aber heißt Scheidung und Entscheidung, und die Musik war es, an die die höchsten Entscheidungen seines Geistes und seiner Seele, seines prophetisch regierenden Gewissens sich knüpften.

Mit einem Worte: sein Verhältnis zur Musik war das der Leidenschaft, der Passion. Was aber ist Leidenschaft? Wie kommt das Element des "Leidens" in diese Wort- und Begriffsbildung? Was ist es, was Liebe leiden macht? – Es ist der Zweifel. Nietzsche hat einmal gesagt, die Liebe des Philosophen zum Leben sei die Liebe zu einem Weibe, das uns Zweifel mache. Genau dasselbe hätte er sagen können von seiner Liebe zur Musik. Sie war Liebe mit dem Stachel des Zweifels, der sie zur Leidenschaft machte; und wenn man je die Leidenschaft als zweifelnde Liebe bestimmte, so trug diese Bestimmung sein Gepräge.

Wir fragen weiter: Woher die prophetisch erzieherischen Regierungs- und Gewissenszweifel, die seiner Liebe zur Musik den Stachel der Passion und der Problematik gaben? – Daher, versuchen wir zu antworten, daß er – sehr deutsch das Musikalische fast gleichsetzte dem Romantischen, und daß es das Schicksal, die Sendung seines Heldentums war, sich an diesem seelischen Machtkomplex voll höchsten Zaubers, dem Musikalisch-Romantischen, dem Romantisch-Musikalischen – und also beinahe dem D e u t s c h e n – zu bewähren.

Sein Heldentum aber hieß Selbstüberwindung. Er hat, um des Lebens willen, die "asketischen Ideale" mit seinem ganzen Genie bekämpft; aber er selbst war ein Held jener "innerweltlichen Askese", die die moralische Form der Revolution ist. Er war, wie Wagner, von dem er sich mit seinem Gewissensurteil gelöst, den er aber bis in den Tod geliebt hat, seiner geistigen Herkunft nach ein später Sohn der Romantik. Daß aber Wagner ein mächtig-glückhafter Selbstverherrlicher und Selbstvollender, Nietzsche dagegen ein revolutionärer Selbstüberwinder war, das macht es, daß jener auch nur der letzte Verherrlicher und unendlich bezaubernde Vollender einer Epoche blieb, dieser aber zu einem Seher und Führer in neue Menschenzukunft geworden ist.

Dies ist er uns: ein Freund des Lebens, ein Seher höheren Menschentums, ein Führer in die Zukunft, ein Lehrer der Überwindung all dessen in uns, was dem Leben und der Zukunft entgegensteht, das heißt des Romantischen. Denn das Romantische ist das Lied des Heimwehs nach dem Vergangenen, das Zauberlied des Todes; und das Phänomen Richard Wagners, das Nietzsche so unendlich geliebt hat und das sein regierender Geist überwinden mußte, war kein anderes, als das paradoxe und ewig fesselnde Phänomen welterobernder Todestrunkenheit.

Ich weiß wohl, wie viel in Ihnen, in uns sich – trotz Nietzsche, trotz Goethe selbst – dagegen wehrt, das Romantische als das Lebenswidrige und Kranke zu empfinden. Ist es denn nicht das Gemütlich-Gesundeste von der Welt, das Liebenswürdige selbst, geboren aus innigsten Tiefen des Volksgemüts? Ja, ohne Zweifel! Allein das ist eine Frucht, die, frisch und prangend gesund diesen Augenblick und eben noch, außerordentlich zur Zersetzung und Fäulnis neigt und, reinste Labung des Gemütes, wenn sie im rechten Augenblick genossen wird, vom nächsten, unrechten Augenblick an Fäulnis und Verderben in der genießenden Menschheit verbreitet. Es ist eine Lebensfrucht, vom Tode gezeugt und todesträchtig. Es ist ein Wunder der Seele, – das höchste vielleicht vor dem Angesicht gewissenloser Schönheit und gesegnet von ihr, jedoch mit Mißtrauen betrachtet aus triftigen Gründen vom Auge verantwortlich regierender Lebensfreundschaft und Gegenstand der Selbstüberwindung nach letztgültigem Gewissensspruch.

Ja, Selbstüberwindung, das mag wohl auch heute noch das Wesen der Überwindung dieser Liebe sein, – dieses Seelenzaubers mit finsteren Konsequenzen. Auch wir alle noch sind seine Söhne, und kennen seine Macht. Man mochte als Seelenzauberkünstler dem Heimwehliede dramatische Riesenmaße verleihen und die Welt damit unterwerfen. Man mochte wohl gar Reiche darauf gründen, irdisch-allzuirdische Reiche, sehr derb und fortschrittsfroh und eigentlich gar nicht heimwehkrank, – in welchen das Lied, wenn ich so sagen darf, zur elektrischen Grammophonmusik verdarb. Aber sein bester Sohn mag doch derjenige gewesen sein, der, für uns alle, in seiner Überwindung sein Leben verzehrte und starb, auf den Lippen das neue Wort, das er noch kaum zu sprechen wußte, das auch wir noch kaum zu stammeln wissen, das prophetische Wort der Lebensfreundschaft und Zukunft.

Meine geehrten Zuhörer, man spricht und berät heute viel über eine zu erhoffende seelische Gesundung Europas. Was aber ist denn das, seelische Gesundung? Es ist die ideelle und grundsätzliche Wendung vom Tode weg zum Leben. Die aber ist schwer und tut weh; denn Europa ist ein romantisches Land; es krankt an Vergangenheit, an einem lebensgefährlichen Zuviel von historischer Frömmigkeit, aristokratischer Todesverbundenheit, die es bezwingen muß, wenn anders es sich nicht zu vornehm für das Leben dünkt und zu sterben entschlossen ist. Zu vornehm für das Leben? Aber das aristokratische Problem, das Problem der Vornehmheit – Nietzsche hat es entschieden: Gegen den Tod, zugunsten des Lebens! Eines guten Willens sein, das heißt heute nichts anderes, als ihm hierin Gefolgschaft leisten; es heißt. Willens sein, dem gesunkenen und beschädigten Erdteil und zuerst natürlich dem eigenen Volk bei dieser Wendung und Überwindung, die vor allem Selbstüberwindung ist, nach dem Maß unserer Kräfte zu helfen, – selbst auf die Gefahr, daß Selbstüberwindung verwechselt werde mit Selbstverrat und mit Verrat überhaupt. Auch Nietzsches große, stellvertretende Selbstüberwindung, der sogenannte Abfall von Wagner, schien Verrat. Seine Freunde klagten, es könne kein gutes Ende nehmen mit Einem, der beständig den Zweig absäge, auf dem er sitze, und ein Kapitel des schönsten Buches über ihn, des Buches von Bertram, ist "Judas" überschrieben. Daß aber Nietzsche zum Judas wurde, das ist es, warum heute bei seinem Namen – nicht bei dem jenes imperialen Romantikers – schwört, was an Zukunft glaubt, und warum er zum Evangelisten geworden ist eines neuen Bundes von Erde und Mensch.

An die Musik, sagten wir, knüpften sich die höchsten Entscheidungen seines Geistes. Sein Heldentum bewährte sich an ihr und fand auch wieder Lösung, Erlösung durch sie. '"Musik und Tränen," schrieb er einmal, "- ich weiß das kaum auseinander zu halten." Wie täten wir nicht gut, sein Andenken zu feiern mit Musik! Mit höchster Musik, heraufgeführt von dem geistigsten Meister des Instruments, auf dem auch Nietzsche, wie uns versichert wird, ein improvisatorischer Meister war. Ich bin froh, verstummen zu können, um mit Ihnen zu lauschen, – und dabei zu denken, er lauschte mit uns.

[aus: Ariadne, Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, hg. v. E. Bertram, H. v. Hofmannsthal, Th. Mann, R. Oehler u.a., Verl. der Nietzsche-Gesellschaft, München 1925]

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Alles nur ein Spiel mit Worten? Thomas Manns berüchtigte "Betrachtungen eines Unpolitischen" in einer Neuausgabe

Die Rede über Deutschland und die Deutschen von 1947

Soweit Thomas Mann 1924; bekanntlich hat sich dessen Stellung zu Nietzsche im Laufe der Zeiten denn doch verändert – schauen wir dazu in seinen "Roman im Roman": "Die Entstehung des Doktor Faustus" (S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1981 [1947]. Einfügungen in eckigen Klammern stammen von mir):

Dort zitiert er etwa im Jahr 1942 – auf Vortragsreisen durch Amerika – aus seinem Tagebuch (S. 687) anläßlich der Lektüre des Podach-Buches über "Nietzsches Zusammenbruch": "Verhängnisvolle Mystik, unerlaubt, oft Mitleid erregend. Der ‚Unselige‘!"

Wie sehr muß der Wandel der Zeiten auch die Sehweise Nietzsches durch Mann verwandelt haben, wenn wir diese Äußerung mit der vorstehenden Rede vergleichen! ( - ebenso wie dies Bild mit dem obigen, das die Zuversicht der Jugend zeigt ...)

Auf welche Weise er Nietzsche in seinen Roman "Doktor Faustus" hineinmontiert, schildert er freimütig (S. 701 f.): "Die Einschwärzung lebender, schlechthin bei Namen genannter Personen unter die Figuren des Romans, von denen sie sich nun an Realität oder Irrealität nicht mehr unterscheiden, ist nur ein geringeres Beispiel für das Montageprinzip, von dem ich spreche. Da ist die Verflechtung der Tragödie Leverkühns mit derjenigen Nietzsche’s, dessen Name wohlweislich in dem ganzen Buch nicht erscheint, eben weil der euphorische [!] Musiker an seine Stelle gesetzt ist, so daß es ihn nun nicht mehr geben darf; die wörtliche Übernahme von Nietzsche’s Kölner Bordell-Erlebnis und seiner Krankheitssymptomatik, die Ecce Homo-Zitate des Teufels, das – kaum einem Leser bemerkliche – Zitat von Diät-Menus nach Briefen Neitzsche’s aus Nizza, oder das ebenfalls unauffällige Zitat von Deussens letztem Besuch mit dem Blumenstrauß bei dem in geistige Nacht Versunkenen."

Zwar ist Mann nach wie vor vom Lebensgeschick Nietzsches ergriffen – dies ja auch der Grund, warum er in dieser Zeit des Doktor Faustus immer wieder Schriften von und über ihn liest, so etwa den Ecce Homo oder die Briefwechsel mit Rohde und Burckhardt; und er nimmt Nietzsche gegen Richard Wagner und ... Adolf Hitler in Schutz (S. 829): "Dabei spricht Newman [amerikanischer Wagner-Biograph] von Wagner als Denker oft nicht respektvoller als von Nietzsche, verzeiht aber jenem alles um der Werke willen – als ob die nichts mit dem Denken zu tun hätten. Übrigens nennt er seinen Helden einmal ‚a born amateur‘ – und versteht nicht, daß gerade diese Natur, das damit verbundene autoritäre Mitreden über alles und jedes, die namenlose Unbescheidenheit, die diejenige Hitlers vorwegnimmt, Nietzschen auf die Nerven ging. Die Kennzeichnung nebenbei, konnte mir recht sein. Welches Ärgernis hatte ich aufgeregt, als ich in ‚Leiden und Größe Richard Wagners‘ den Mann des ‚Gesamtkunstwerks‘ einen genialen Dilettanten genannt hatte!" [Was aber wohl in der Nachfolge Nietzsches und dessen Wagner-Psychologie nichts so ganz Außergewöhnliches gewesen sein kann!]

Aber schließlich 1947, in seiner Rede Deutschland und die Deutschen (Suhrkamp Verlag, Berlin 1947, S. 28 f.), hat sich ihm das Bild Nietzsches dann im Verhältnis zu seiner Rede von 1924 vollständig verwandelt:

"Reich und faszinierend sind die Verdienste des Romantizismus um die Welt des Schönen, auch als Wissenschaft, als ästhetische Lehre. Was Poesie ist, weiß der Positivismus, weiß die intellektualistische Aufklärung überhaupt nicht; erst die Romantik lehrte es eine Welt, die im tugendhaften Akademismus vor Langerweile umkam. Die Romantik poetisierte die Ethik, indem sie das Recht der Individualität und der spontanen Leidenschaft verkündete. Märchen- und Liederschätze hob sie aus den Tiefen völkischer Vergangenheit und war überhaupt die geistvolle Schutzherrin der Folkloristik, die in ihrem farbigen Lichte als eine Abart des Exotismus erscheint. Das Vorrecht vor der Vernunft, das sie dem Emotionellen, auch in seinen entlegenen Formen als mystischer Ekstase und dionysischem Rausch, einräumte, bringt sie in eine besondere und psychologisch ungeheuer fruchtbare Beziehung zur Krankheit, wie denn noch der Spätromantiker Nietzsche, ein selbst durch Krankheit ins Tödlich-Geniale emporgetriebener Geist, nicht genug den Wert der Krankheit für die Erkenntnis feiern konnte. In diesem Sinn ist selbst noch die Psychoanalyse, die einen tiefen Vorstoß des Wissens vom Menschen von der Seite der Krankheit her bedeutete, ein Ausläufer der Romantik."

War Mann Nietzsche 1924 noch der Überwinder der Romantik, der den neuen Menschen heraufbringt, so ist er ihm nun zum Spätromantiker geworden, und damit mitverantwortlich für "das Niveau eines Hitler", für den "deutsche[n] Romantismus" und dessen "hysterische Barbarei" (aaO. S. 30):

"Goethe hat die lakonische Definition gegeben, das Klassische sei das Gesunde und das Romantische das Kranke. Eine schmerzliche Aufstellung für den, der die Romantik liebt bis in ihre Sünden und Laster hinein. Aber es ist nicht zu leugnen, daß sie noch in ihren holdesten, ätherischsten, zugleich volkstümlichen und sublimen Erscheinungen den Krankheitskeim in sich trägt, wie die Rose den Wurm, daß sie ihrem innersten Wesen nach Verführung ist, und zwar Verführung zum Tode. Dies ist ihr verwirrendes Paradox, daß sie, die die irrationalen Lebenskräfte revolutionär gegen die abstrakte Vernunft, den flachen Humanitarismus vertritt, eben durch ihre Hingabe an das Irrationale und die Vergangenheit, eine tiefe Affinität zum Tode besitzt. Sie hat in Deutschland, ihrem eigentlichen Heimatland, diese irisierende Doppeldeutigkeit, als Verherrlichung des Vitalen gegen das bloß Moralische und zugleich als Todesverwandtschaft, am stärksten und unheimlichsten bewährt. Sie hat als deutscher Geist ... verschmäht, von Europa, vom Geist der europäischen Menschheitsreligion, des europäischen Demokratismus, irgendwelche korrigierende Belehrungen anzunehmen." (aaO. S. 29 f.)

Wer sähe hier nicht die Abkehr von Nietzsche und dessen "Verherrlichung des Lebens" gegenüber nivellierendem "Demokratismus"? Aus dem "sittlichen Meister", "Seher und Führer in neue Menschenzukunft", dem ehemaligen "Selbstüberwinder" des Romantischen ist Nietzsche für Thomas Mann ein "durch Krankheit ins Tödlich-Geniale emporgetriebener" Vitalist geworden, der nunmehr stattdessen im Beharren auf seiner "Irrationalität" zum Typ des antieuropäischen deutschen Romantikers zählt. Das Nicht-Fahren-Lassen-Können des Ethischen (was Mann ehrt) und die normative Kraft des Faktischen (mit der es sich allerdings erst noch auseinanderzusetzen gälte) zwingen ihn zur Umkehr – was umso schwerer fällt, je mehr er sich auf die Sache Nietzsches, etwa bis zur Herausgeberschaft in der Nietzsche-Gesellschaft, eingelassen hatte.

Die Züricher Nietzsche-Rede

Das Thema Nietzsche und die Deutschen trieb Thomas Mann 1947 nach dem verlorenen Weltkrieg um, und so ist er eigens mit einer Rede bei der PEN-Club-Tagung in Zürich am 2. Juni 1947 mit dem Titel "Nietzsche's Philosophie im Lichte unserer Erfahrung" aufgetreten.

Er gibt in diesem Vortrag seiner gewandelten Nietzsche-Auffassung noch weit beredteren Ausdruck als in der Deutschland-Rede; seinen Hauptaussagen ist zwar in weiten Teilen zuzustimmen, decken sie sich doch mit der auf diesen Seiten vertretenen Kritik an der Nietzscheschen Unethik; aber hätte all dies nicht auch schon 1924 gesehen werden können und müssen? Warum 1924 dazu kein Wort, sondern ganz andere? Warum dann 1947 kein Wort dazu, daß man selbst dies einstens ganz anders gesagt und gesehen hatte? Nicht der Autor Nietzsche hatte sich doch gewandelt, sondern der Autor Mann – was sein gutes Recht, wenn nicht seine Pflicht war, wenn er sich geirrt haben sollte. Aber kein Wort zu diesem Irrtum, nein, alle eigene Verirrung wird klammheimlich nun bei Nietzsche abgeladen, dessen Krankheit wird (mit Jaspers) psychologisiert und ins Werk hineingezogen (gegen Jaspers und mit Möbius), man bedauert Nietzsche, den Armen, und damit indirekt den eigenen Irrtum ... das scheint mir ein wenig unredlich.
In seinem Vortrag gibt Th. Mann in groben Linien einen Überblick über Leben und Werk Nietzsches unter gleichzeitiger Interpretation dieses sich wie bei kaum einem anderen Autor ineinanderschlingenden Verlaufes – und dieser Interpretation sieht man das ihr vorlaufende Geschehen, die Niederlage Hitlers und der Deutschen im Zweiten Weltkrieg, deutlich an (Th. Mann hat "aus der Geschichte gelernt"). Doch auch die Rede von 1924 steht nach einem verlorenen Weltkrieg der Deutschen, nach schlimmsten wirtschaftlichen und politischen Wirren (1918/1923), die Situation ist so unvergleichbar nicht, und doch sieht er damals Nietzsches Denken als "rettendes" und "zukunftsweisendes".
Wie sollen wir der Nietzsche-Interpretation von 1947 trauen, wenn Th. Mann so ohne weiteres und ohne eigene Rückerinnerung fähig ist, sich auf Grund der normativen Kraft des Faktischen vom ehemals Gesagten sang- und klanglos zu verabschieden? Würde er uns heute nicht wieder etwas ganz Anderes zu Nietzsche sagen? Wie können wir ihm, Th. Mann, trauen, wenn er sich nicht bewußt seinen eigenen Fehlern stellt, sondern je nach Lage die Meinung wechselt?!
Selbst noch seine Trauer über Nietzsche ist zuletzt Ich-bezogen, beweint in Einem den Verlust eines einst für wahr gehaltenen Ideals und das Aufgeben-Müssen dieses Ideals wie allen Idealismus' als eines Fehlers, den man als Verfechter des Ideals selbst begangen.
Th. Mann ist Angelsachse geworden - er hat das "Deutsche" als Träger einer "zukünftigen Kultur" aufgegeben, und die meisten Deutschen tun es ihm heute nach.
Zugleich hat er damit dasjenige verraten, was an Nietzsche das Wertvolle und bis heute Wirksame ist: das Individuum ansprechen zu können, es auf einen eigenen Weg zu bringen, ohne es zu irgendwelchem Glauben zu verführen wie noch jede Religion. Indem er in seiner Rede versucht, Nietzsche ganz und gar zu historisieren, verdrängt er gleichzeitig die eigene Verantwortung dafür, daß er sich einst von dem wortgewaltigen Manne im eigenen jugendlichen Aufbruch auch zu manch falscher Sicht der Welt hat hinreißen lassen, wie er sie 1924 bekundete. In dieser Gegenreaktion auf den eigenen Irrtum durch Historisierung verschweigt er – sich selbst sicher unbewußt – die über- und ideengeschichtliche Stellung Nietzsches am Ende der Metaphysik in der Durchreflektierung der Vernunft. Diese besteht darin, eindringlich auf dieses Ende und damit auf die Notwendigkeit eines neuen "Aufbruchs" in jedwedem Sprachsinne hinzuweisen. Dieses Aufbrechen war es, das einst Th. Mann auch an sich selbst erfuhr, und nun verleugnet, weil er einst unkritisch auch den Nietzscheschen Fehleinschätzungen nachgegangen war. Dazu im Folgenden einige kommentierte Zitate aus der Rede:

"Nietzsche, der Denker und Schriftsteller, ... war eine Erscheinung von ungeheuerer, das Europäische resümierender, kultureller Fülle und Komplexität, welche vieles Vergangene in sich aufgenommen hatte, das sie in mehr oder weniger bewußter Nachahmung und Nachfolge erinnerte, wiederholte, auf mythische Art wieder gegenwärtig machte, und ich zweifle nicht, daß der große Liebhaber der Maske des hamletischen Zuges in dem tragischen Lebensschauspiel, das er bot – ich möchte fast sagen: das er veranstaltete, wohl gewahr war. Was mich, den ergriffen sich versenkenden Leser und »Betrachter« der nächstfolgenden Generation, betrifft, so habe ich diese Verwandtschaft früh empfunden und dabei die Gefühlsmischung erfahren, die gerade für das jugendliche Gemüt etwas so Neues, Aufwühlendes und Vertiefendes hat: die Mischung von Ehrfurcht und Erbarmen. Sie ist mir niemals fremd geworden. Es ist das tragische Mitleid mit einer überlasteten, über-beauftragten Seele, welche zum Wissen nur berufen, nicht eigentlich dazu geboren war und, wie Hamlet, daran zerbrach."

So leitet Th. Mann seinen Vortrag von 1947 ein; ist es jedoch wahr, daß sich in der oben stehenden Rede von 1924 ausgerechnet "Erbarmen" und "Mitleid" kundtut, wie er durchgehend für sich reklamiert, wenn dort von jenem "kühnen, prophetisch regierenden und erzieherischen Geist" die Rede ist, den die damals Versammelten "eben in dieser deutschen und europäischen Stunde, als unsern sittlichen Meister empfinden"?!

"Man hat das Bild einer hochbegabten Edel-Normalität, die eine Laufbahn der Korrektheit auf vornehmem Niveau zu gewährleisten scheint. Statt dessen, von dieser Basis, welch ein Getriebenwerden ins Weglose! Welch ein Sich-Versteigen in tödliche Höhe! ... Dies Wort anzuwenden auf den Mann, der sicher nicht nur der größte Philosoph des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, sondern einer der unerschrockensten Helden überhaupt im Reich des Gedankens war, klingt wie Philisterei. Aber Jacob Burckhardt ... war kein Philister, und doch hat er die Neigung, ja den Willen zum Sich-Versteigen und zur tödlichen Verirrung früh schon der Geistesrichtung des jüngeren Freundes angemerkt und sich weislich von ihm getrennt, ihn mit einer gewissen Gleichgültigkeit, die Goethe’scher Selbstschutz war, fallenlassen ..."

Nun, dieser "Selbstschutz" ist dem Th. Mann von 1924 durchaus nicht anzumerken, damals meinte er noch dem "Seher und Führer in neue Menschenzukunft" folgen zu sollen!

"Was war es, was Nietzsche ins Unwegsame trieb, ihn unter Qualen dort hinaufgeißelte und ihn den Martertod am Kreuz des Gedankens sterben ließ? Sein Schicksal – und sein Schicksal war sein Genie. Aber dieses Genie hat noch einen anderen Namen. Er lautet: Krankheit – dies Wort nicht in dem vagen und allgemeinen Sinn genommen, in welchem es sich so leicht mit dem Begriff des Genies verbindet, sondern in einem so spezifischen und klinischen Verstande, daß man sich wiederum dem Verdacht des Banausentums und dem Vorwurf aussetzt, man wolle die schöpferische Lebensleistung eines Geistes damit entwerten, der als Sprachkünstler, Denker, Psycholog die ganze Atmosphäre seiner Epoche verändert hat. Das wäre ein Mißverständnis. Oft ist gesagt worden, und ich sage es wieder: Krankheit ist etwas bloß Formales, bei dem es darauf ankommt, womit es sich verbindet, womit es sich erfüllt. Es kommt darauf an, wer krank ist: ein Durchschnittsdummkopf, bei welchem die Krankheit des geistigen und kulturellen Aspektes freilich entbehrt, oder ein Nietzsche, ein Dostojewski. Das Medizinisch-Pathologische ist eine Seite der Wahrheit, ihre naturalistische sozusagen, und wer die Wahrheit als Ganzes liebt und willens ist, ihr unbedingt die Ehre zu geben, wird nicht aus geistiger Prüderie irgendeinen Gesichtspunkt verleugnen, unter dem sie gesehen werden kann."

Die bekannte Untersuchung von Möbius "Über das Pathologische bei Nietzsche", auf die sich Th. Mann hier beruft, war bereits 1902 und 1904 in 2. Auflage erschienen – warum hört man 1924 nichts davon? Nun, erst 1947 paßt sie genau in seine Argumentation – aber wie sagte er 1924? "Nietzsche hat es entschieden: Gegen den Tod, zugunsten des Lebens! Eines guten Willens sein, das heißt heute nichts anderes, als ihm hierin Gefolgschaft leisten." Das liest sich jetzt genau umgekehrt: "Martertod am Kreuz des Gedankens", dazu muß einer schon eine ganz unglückliche Natur sein, vielleicht ja gar geisteskrank ...

"Brieflich nennt er sich »einen Menschen, der nichts mehr wünscht als täglich irgend einen beruhigenden Glauben zu verlieren, der in dieser täglich größeren Befreiung des Geistes sein Glück sucht und findet. Vielleicht daß ich sogar noch mehr Freigeist sein will, als ich es sein kann!« – Das ist ein Geständnis, sehr früh, schon 1876 abgelegt, es ist die Antizipation seines Schicksals, seines Zerbrechens; das Vorwissen eines Menschen, der getrieben sein wird, sich an Erkenntnis Grausameres zuzumuten, als ein Gemüt ertragen kann, und der der Welt das Schauspiel einer erschütternden Selbstkreuzigung bieten wird."

Nun, das ist ja denn auch beim Begründer des Christentums schon die Frage ... 1924 sah Mann Nietzsche sich noch für die Menschheit opfern, als den "revolutionären Selbstüberwinder" – nun ist ihm dies Opfer zu einer "erschütternden Selbstkreuzigung" verkümmert; in gleicher Weise schüttelten schon die damaligen Römer über jenen Jesus den Kopf.

"Und nun beginnt eine Schilderung von Erleuchtungen, Entzückungen, Elevationen, Einflüsterungen, göttlicher Kraft- und Machtgefühle, die er nicht umhinkann, als etwas Atavistisches, Dämonisch-Rückschlägiges, anderen, »stärkeren« und gottnäheren Zuständen der Menschheit Angehöriges und aus den psychischen Möglichkeiten unserer schwächlich-vernünftigen Epoche Herausfallendes zu empfinden. Und dabei beschreibt er >in Wahrheit< – aber was ist Wahrheit: das Erlebnis oder die Medizin? – einen verderblichen Reizungszustand, der dem paralytischen Kollaps höhnend vorangeht."

Bewußt gibt er hier die von Jaspers empfohlene Vorsicht vor dem Argumentieren mit der Krankheit auf und rückt Nietzsche absichtlich auf die Mitte zwischen Wahnsinn und Inspiration, wohl wissend, daß der Volksmund das "Heilige" bzw. das "Geniale" schon immer mit dem Verrücktsein nahezu identifzierte. Sind die Erklärungsversuche damit wirklich ausgeschöpft, solch "entrückte" Zustände, die doch auch von anderer Seite, etwa den Mystikern wie einem Meister Eckhardt oder Angelus Silesius beschrieben wurden, als "verderblichen Reizungszutand" vor "dem paralytischen Kollaps" zu bezeichnen?

"Jeder wird zugeben, daß es hektische, von entgleitender Vernunft zeugende Ausschreitungen des Selbstbewußtseins sind, wenn Nietzsche den >Zarathustra< eine Tat nennt, an der gemessen der ganze Rest von menschlichem Tun als arm und bedingt erscheint, wenn er behauptet, daß ein Goethe, ein Shakespeare, ein Dante nicht einen Augenblick in der Höhe dieses Buches zu atmen wissen würde, und daß der Geist und die Güte aller großen Seelen zusammen genommen nicht imstande wären; nur eine Rede Zarathustra’s hervorzubringen. Natürlich muß es ein großer Genuß sein, dergleichen niederzuschreiben, aber ich finde es unerlaubt. Übrigens mag es sein, daß ich nur meine eigenen Grenzen feststelle, wenn ich weitergehe und bekenne, daß mir überhaupt das Verhältnis Nietzsche’s zum dem Zarathustra-Werk dasjenige blinder Überschätzung zu sein scheint. ... Dieser gesicht- und gestaltlose Unhold und Flügelmann Zarathustra mit der Rosenkrone des Lachens auf dem unkenntlichen Haupt, seinem »Werdet hart!« und seinen Tänzerbeinen ist keine Schöpfung, er ist Rhetorik, erregter Wortwitz, gequälte Stimme und zweifelhafte Prophetie, ein Schemen von hilfloser Grandezza, oft rührend und allermeist peinlich – eine an der Grenze des Lächerlichen schwankende Unfigur."

Natürlich ist der Zarathustra problematisch – ich selbst nehme ihn, trotz all seiner sprachlichen Schönheiten, nur ungern zur Hand; und natürlich ist diese Art von "Selbstbewußtsein" sehr bedenklich und durchaus peinlich. Aber was Mann jetzt "Rhetorik, erregter Wortwitz, gequälte Stimme und zweifelhafte Prophetie" nennt, war ihm 1924 "in deutscher Prosa, und wahrscheinlich in europäischer überhaupt, bisher ohne Beispiel" – damals ist ihm Nietzsches "Sprache selbst [...] Musik und bekundet eine Feinheit des inneren Gehörs, eine Meisterschaft des Sinnes für Fall, Tempo, Rhythmus der scheinbar ungebundenen Rede."

Und dies ist besonders bedenklich: Denn hier geht es weniger um ethische als vielmehr um ästhetische Wertungen – hätte diese Peinlichkeit Mann denn nicht schon 1924 auffallen müssen? Nein, erst mit der Verkehrung seines ethischen Urteils wendet sich auch noch das ästhetische ... Dies scheint dafür zu sprechen, daß sich Mann zunächst ästhetisch hat von Nietzsche verführen lassen, was gleichzeitig auch seine ethische Kritik aushängte; unter solchen Voraussetzungen ist es aber kein Wunder, daß die ethische Ent-Täuschung dann gleichzeitig auch die ästhetische nach sich zieht, die einst den Anlaß zu solch peinlicher Täuschung gab.

"»Ich will«, sagt er, »es so schwer haben, wie nur irgendein Mensch es hat.« Schwer hat er es sich gemacht, schwer bis zur Heiligkeit, denn Schopenhauers Heiliger blieb ihm in Grunde immer der höchste Typus, und der »heroische Lebenslauf«, das ist der Lebenslauf des Heiligen. Was definiert den Heiligen? Daß er nichts von allem tut, was er möchte, und alles, was er nicht möchte. So hat Nietzsche gelebt: »Allem entsagen, was ich verehrte, der Verehrung selbst entsagend ... Du sollst Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden.« Das ist der »Akt des sich selbst Überspringens«, von dem Novalis einmal spricht, und von dem er meint, daß er überall der höchste sei. Dieser »Akt« nun (ein Artisten- und Akrobatenausdruck) hat bei Nietzsche so gar nichts Übermütig-Gekonntes und Tänzerisches. Alles »Tänzerische« in seinem Gehaben ist Velleität und im höchsten Grade unangenehm. Sondern es ist ein blutiges Sich-ins-eigene-Fleisch-Schneiden, Kasteiung, Moralismus."

Das ist sicher richtig gesehen, liest sich 1924 aber ganz anders: dort ist Nietzsche beschrieben als "ein Freund des Lebens, ein Seher höheren Menschentums, ein Führer in die Zukunft, ein Lehrer der Überwindung all dessen in uns, was dem Leben und der Zukunft entgegensteht, das heißt des Romantischen". Die Umkehrung: Nietzsche statt als Überwinder des Romantischen wie 1924 jetzt als die letzte und höchste Form Romantik selbst einzuordnen – erlaubt Th. Mann nun auch die Umwertung aller Urteile über Nietzsche in ihr Gegenteil. Wie sagte er doch 1924: "Daß aber Nietzsche zum Judas wurde, das ist es, warum heute bei seinem Namen – nicht bei dem jenes imperialen Romantikers – schwört, was an Zukunft glaubt, und warum er zum Evangelisten geworden ist eines neuen Bundes von Erde und Mensch." Hier übernimmt er ganz offensichtlich noch das Nietzschesche Wort vom Zarathustra als dem "5. Evangelium" ...

Wie schwer muß sich jemand enttäuscht fühlen (statt bei sich selbst die Schuld für solche Selbsttäuschung zu suchen!), der über sein einst Verehrtestes nach einer 180°-Wendung sich dann so ausläßt:

"Dies alles steht hinter den Atrozitäten und trunkenen Botschaften von Macht, Gewalt, Grausamkeit und politischem Betrug, zu welchem sein Gedanke des Lebens als Kunstwerk und einer vom Instinkt beherrschten, unreflektierten Kultur in den späteren Schriften glänzend degeneriert. Als ein öffentlich Urteilender einmal schrieb, Nietzsche plädiere für die Abschaffung aller anständigen Gefühle, da war der so Mißverstandene völlig wie vor den Kopf geschlagen. »Sehr verbunden!« sagte er höhnisch. Denn er hatte es alles sehr nobel und menschenfreundlich, im Sinn eines höheren, tieferen, stolzeren, schöneren Menschentums gemeint und sich sozusagen »nichts dabei gedacht« – jedenfalls nichts Schlechtes wenn auch eine Menge Böses. Denn alles, was Tiefe hat, ist böse; das Leben selbst ist tief böse, es ist nicht von der Moral ausgedacht, es weiß nichts von >Wahrheit<, sondern beruht auf Schein und künstlerischer Lüge, es spricht der Tugend Hohn, denn es ist wesentlich Ruchlosigkeit und Ausbeutung, – und, sagt Nietzsche, es gibt einen Pessimismus der Stärke, eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus Fülle des Daseins. Dieses Wohlsein«, diese »Fülle des Daseins« schreibt der kranke Euphoriker sich zu und macht es zu seiner Sache, die bisher verneinten, vor allem vom Christentum verneinten, Seiten des Lebens als seine bejahenswertesten auszurufen. Das Leben über alles!"

Und da ist es dann auch ganz unverblümt heraus: Es ist der "kranke Euphoriker", der die Schuld an der Verführung hat – es hat etwas von dem Phänomen des Renegatentums und des Glaubensverlustes an sich, wenn das Meistverehrte zum Bestgehaßten wird ...

"»Es gibt keinen festen Punkt außerhalb des Lebens«, sagt Nietzsche, »von dem aus über das Dasein reflektiert werden könnte, keine Instanz, vor der das Leben sich schämen könnte.« Wirklich nicht? Man hat das Gefühl, daß doch eine da ist, und möge es nicht die Moral sein so ist es schlechthin der Geist des Menschen, die Humanität selbst als Kritik, Ironie und Freiheit, verbunden mit dem richtenden Wort. »Das Leben hat keinen Richter über sich«? Aber im Menschen kommen doch irgendwie Natur und Leben über sich selbst hinaus, sie verlieren in ihm ihre Unschuld, sie bekommen Geist – und Geist ist die Selbstkritik des Lebens. Dieses humane Etwas in uns hat einen zweifelnden Blick des Mitleids für eine »Gesundheitslehre« des Lebens, die in noch nüchternen Tagen sich nur gegen die historische Krankheit richtet, aber dann in eine mänadische Wut gegen Wahrheit, Moral, Religion, Menschlichkeit gegen alles ausartet, was zu einer leidlichen Zähmung des wilden Lebens dienen kann.

Soviel ich sehe, sind es zwei Irrtümer, die das Denken Nietzsche’s verstören und ihm verhängnisvoll werden. Der erste ist ein völlige, man muß annehmen: geflissentliche Verkennung der Machtverhältnisses zwischen Instinkt und Intellekt auf Erden so, als sei dieser das gefährlich Dominierende, und höchste Notzeit sei es, den Instinkt vor ihm zu retten. Wenn man bedenkt, wie völlig bei der großen Mehrzahl der Menschen der Wille, der Trieb, das Interesse den Intellekt, die Vernunft, das Rechtsgefühl beherrschen und niederhalten, so gewinnt die Meinung etwas Absurdes, man müsse den Intellekt überwinden durch den Instinkt. Nur historisch, aus einer philosophischen Augenblickssituation, als Korrektur rationalistischer Saturiertheit, ist die Meinung zu erklären, und sofort bedarf sie der Gegen-Korrektur. Als ob es nötig wäre, das Leben gegen den Geist zu verteidigen!

Als ob die geringste Gefahr bestünde, daß es je zu geistig gehen könnte auf Erden! Die einfachste Generosität sollte dazu halten, das schwache Flämmchen der Vernunft des Geistes, der Gerechtigkeit zu hüten und zu schützen, statt sich auf die Seite der Macht und des instinkthaften Lebens zu schlagen und sich in einer korybantischen Überschätzung seiner »verneinten« Seiten, des Verbrechens zu gefallen, – dessen Schwachsinn wir Heutigen erlebt haben."

Das wird man sofort mitunterschreiben müssen – aber Th. Mann wurde offenbar erst "nach dem Schaden klug"; Nietzsche selbst hat diesen "Schadensfall" (der Weltkriege) nicht miterlebt, und er war einsamst und krank, was seine Selbstkritik notwendig einschränken mußte – Th. Mann kann all diese Umstände für sich nicht geltend machen, als er sich durch Nietzsches Ästhetik verführen ließ und in ihm den "Seher und Führer in neue Menschenzukunft" pries.

"Wenn man sich aber vor Augen stellt – und es stellt sich einem vor Augen! –, welches Verderben in jedem Sinne des Wortes selbst der für die Menschheit geführte Krieg zeitigt, welche Entsittlichung, welche Entfesselung gierig egoistischer und antisozialer Triebe; wenn man, belehrt durch das schon Erlebte, sich ein ungefähres Bild davon macht, wie die Erde erst nach dem nächsten, dem dritten Weltkrieg aussehen wird – aussehen würde –, so erscheinen einem Nietzsche’s Rodomontaden von der kulturerhaltenden und selektiven Funktion des Krieges als die Phantasien eines Unerfahrenen, des Sohnes einer langen Friedens- und Sekuritätsepoche mit >mündelsicheren Anlagen<, welche sich an sich selbst zu langweilen beginnt."

Diese Kritik ist völlig berechtigt, aber muß sich Th. Mann dann nicht 1924 selbst als ebenso "unerfahren" und "gelangweilt" bezeichnen, der er gerade erst den Krieg von 1914-1918 erlebt hatte, die "Urkatastrophe Europas" – und dennoch Nietzsche als "Führer in die Zukunft" sah?

"Es grenzt ans Gemeine, wenn »Zärtlingen zum Trost« die geringere Schmerzfähigkeit niedriger Rassen, der Neger etwa, zu bedenken gegeben wird. Und wer darin der Sang von der »Blonden Bestie« sich erhebt, dem frohlockenden Ungeheuer«, dem Typus Mensch, der »von der scheußlichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folter mit Übermut heimkommt wie von einem Studentenstreich«, so ist das Bild des infantilen Sadismus vollkommen, und unsere Seele windet sich in Pein."

Sehr richtig – doch leider lesen wir von dieser Pein 1924 kein Wort!

"Durch Nietzsche’s Ästhetizismus, der eine rasende Verleugnung des Geistes ist zugunsten des schönen, starken und ruchlosen Lebens, die Selbstverleugnung eines Menschen also, der tief am Leben leidet, kommt etwas Uneigentliches, Unverantwortliches, Unverlässiges und Leidenschaftlich-Gespieltes in seine philosophischen Ergüsse, ein Element tiefster Ironie, woran das Verständnis des schlichteren Lesers scheitern muß. Was er bietet, ist nicht nur Kunst, – eine Kunst ist es auch, ihn zu lesen, und keinerlei Plumpheit und Geradheit ist zulässig, jederlei Verschlagenheit Ironie, Reserve erforderlich bei seiner Lektüre. Wer Nietzsche >eigentlich< nimmt, wörtlich nimmt, wer ihm glaubt, ist verloren."

Dieser Warnung kann man wiederum nur zustimmen – auch hier scheint es, hat Th. Mann seit 1924 dazugelernt, es könnte sein, er spricht hier von sich selbst ...

"In mehr als einem Sinn ist Nietzsche historisch geworden. Er hat Geschichte gemacht, fürchterliche Geschichte, und übertrieb nicht, wenn er sich »ein Verhängnis« nannte. ...

Er gehört, allerdings in extrem deutscher Gestalt, einer allgemein abendländischen Bewegung an, die Namen wie Kierkegaard, Bergson und viele andere zu den ihren zählt und eine geistesgeschichtliche Revolte ist gegen den klassischen Vernunftglauben des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Sie hat ihr Werk getan – oder nur insofern noch nicht vollendet, als seine notwendige Fortsetzung die Rekonstruierung der menschlichen Vernunft auf neuer Grundlage, die Eroberung eines Humanitätsbegriffs ist, der gegen den selbstgefällig verflachten der Bürgerzeit an Tiefe gewonnen hat. Die Verteidigung des Instinkts gegen Vernunft und Bewußtheit war eine zeitliche Korrektur. Die dauernde, ewig notwendige Korrektur bleibt die des Lebens durch den Geist – oder die Moral, wenn man will. ... Eine ästhetische Weltanschauung ist schlechterdings unfähig, den Problemen gerecht zu werden, deren Lösung uns obliegt, – so sehr Nietzsche’s Genie dazu beigetragen hat, die neue Atmosphäre zu schaffen. ...

Wenn aber Nietzsche verkündete: »Gott ist tot« – ein Beschluß, der für ihn das schwerste aller Opfer bedeutete –, zu wessen Ehrung, zu wessen Erhöhung tat er es, als zu der des Menschen? Wenn er Atheist war, wenn er es zu sein vermochte, so war er es, und klinge das Wort noch so pastoral-empfindsam, aus Menschenliebe. Er muß es sich gefallen lassen, ein Humanist genannt zu werden, wie er es dulden muß, daß man seine Moral-Kritik als eine letzte Form der Aufklärung begreift. Die überkonfessionelle Religiosität, von der er spricht, kann ich mir nicht anders vorstellen als gebunden an die Idee des Menschen, als einen religiös fundierten und getönten Humanismus, der, vielerfahren, durch vieles hindurch gegangen, alles Wissen ums Untere und Dämonische hineinnähme in seine Ehrung des Menschlichen Geheimnisses.

Daß Philosophie nicht kalte Abstraktion, sondern Erleben, Erleiden und Opfertat für die Menschheit ist, war Nietzsche’s Wissen und Beispiel. Er ist dabei zu den Firnen grotesken Irrtums emporgetrieben worden, aber die Zukunft war in Wahrheit das Land seiner Liebe, und den Kommenden, wie uns, deren Jugend ihm Unendliches dankt, wird er als eine Gestalt von zarter und ehrwürdiger Tragik, umloht vom Wetterleuchten dieser Zeitenwende, vor Augen stehen."

Diese abschließenden Worte Th. Manns kann ich nur unterschreiben – sagen sie doch das gleiche wie meine eigene Auffassung, daß wir die Vernunft und deren über Verstand und Ästhetik hinaus etablierten Werte, die auf der Wesensgleichheit aller Menschen beruhen, und die daher allgemeine Menschenrechte heißen, keinesfalls durch eine solche gewaltsame Rückwendung verraten dürfen. So richtig und wichtig mithin diese Warnungen vor gefährlichen Verführungen durch Nietzsche ins Ästhetische und Instinkthafte sind, dorthin, wo angeblich der "starke und gesunde Leib" von sich her den rechten Weg weisen soll, indem er sich als "Wille zur Macht" überlegen erweist – so sehr hätte man von Thomas Mann ein Wort zu seiner früheren und dazu konträren Auffassung erwarten dürfen; leider möchte er uns aber glauben machen, daß er all dies schon immer so oder fast so gesehen habe. Ein großer Geist jedenfalls läuft nicht vor seinen ehemaligen Irrtümern davon, nein, er steht zu ihnen und weist auf sie hin, da er auch sie noch als Bedingungen des eigenen Weges anerkennt – und nicht einmal missen möchte.

Noch einmal: Thomas Mann ist, wenn auch sichtbar unter Schmerzen, "Angelsachse" geworden – der genaue Widerpart dessen, was Nietzsche einst wollte: der auf einen Menschen setzte, der aus seinem eigenen Innen her die Zukunft nicht nur erleidet oder nach Nützlichkeitserwägungen macht, sondern lebendig formt – und hat den Boden vorgezeichnet, auf dem wir heute alle stehen einschließlich all der Identitätsverluste und Widersprüche, die ein solches gewaltsames Abschneiden – wie Mann selbst es sich meinte antun zu müssen – notwendig mit sich bringt.



Hier eine Meldung zur Züricher Rede, die soeben gedruckt und als Tondokument neu erschienen ist, und zwar aus dem Internet unter http://www.berlinerliteraturkritik.de/index.cfm?id=11047:

Thomas Mann über Friedrich Nietzsche
Der berühmte Baseler Vortrag von 1947 neu in Text und Ton
© Die Berliner Literaturkritik, 30.11.05

BASEL (BLK) – Ein Kleinod der Deutschen Geistesgeschichte bringt der Baseler Schwabe Verlag wieder auf den Markt: Thomas Manns Nietzsche-Vortrag auf dem Baseler PEN-Kongress von 1947. Es waren dies seine ersten öffentlichen Worte nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem europäischen Kontinent.
„Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung“ zeuge von Manns jahrzehntelanger vielseitiger und kontroverser Beschäftigung mit Friedrich Nietzsche, befindet der Herausgeber David Marc Hoffmann in seinem Vorwort. Als essayistisches Nachwort zum großen „Doktor Faustus“ Roman, zu ungefähr derselben Zeit erschienen, sei der Vortrag auch geprägt von der nationalsozialistischen Vereinnahmung Nietzsches, die Mann überwinden wollte, ohne allerdings die problematischen Stellen in seinem Werk schön zu reden. So sei „diese Rede zugleich ein Dokument zur Rezeption von Nietzsches Philosophie und Biographie, zum Leben und Schaffen Thomas Manns und zur Geistesgeschichte der Kriegs- und Nachkriegszeit“.

Dem Band ist eine CD beigelegt, die den Live-Mitschnitt des Vortrags durch das Schweizer Radio DRS enthält – ein Tondokument, das hier erstmals seit 60 Jahren in voller Länge veröffentlicht wird. (spä/dor)

Literaturangaben:
MANN, THOMAS: Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung. Vortrag am XIV. Kongress des PEN-Clubs in Zürich am 3. Juni 1947. Gedruckter Text und Tonaufnahme auf CD. Schwabe Verlag, Basel 2005. 44 S., 24,50 €.



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