Dritte Abteilung:

Auseinandergehen
und Nachwehen

Dokumente


Dokumente zu Lou Salomé, Paul Rée und Friedrich Nietzsche

Dritte Abteilung

1. Nachdenken über die Entstehung der Sprache

Hier spricht Nietzsche einen Punkt an, der auch heute noch und wieder von erheblichem Interesse ist, weshalb es lohnend sein könnte, die Nietzschesche Position zu verdeutlichen. Er schreibt in der Fröhlichen Wissenschaft. Buch V, Nr. 354, Vom "Genius der Gattung":

Das Problem des Bewusstseins (richtiger: des Sich-Bewusst-Werdens) tritt erst dann vor uns hin, wenn wir zu begreifen anfangen, inwiefern wir seiner entrathen könnten: und an diesen Anfang des Begreifens stellt uns jetzt Physiologie und Thiergeschichte (welche also zwei Jahrhunderte nöthig gehabt haben, um den vorausliegenden Argwohn Leibnitzens einzuholen). Wir könnten nämlich denken, fühlen, wollen, uns erinnern, wir könnten ebenfalls "handeln" in jedem Sinne des Wortes: und trotzdem brauchte das Alles nicht uns "in's Bewusstsein zu treten" (wie man im Bilde sagt). Das ganze Leben wäre möglich, ohne dass es sich gleichsam im Spiegel sähe: wie ja thatsächlich auch jetzt noch bei uns der bei weitem überwiegende Theil dieses Lebens sich ohne diese Spiegelung abspielt –, und zwar auch unsres denkenden, fühlenden, wollenden Lebens, so beleidigend dies einem älteren Philosophen klingen mag. Wozu überhaupt Bewusstsein, wenn es in der Hauptsache überflüssig ist? –

... Dass uns unsre Handlungen, Gedanken, Gefühle, Bewegungen selbst in's Bewusstsein kommen – wenigstens ein Theil derselben –, das ist die Folge eines furchtbaren langen über dem Menschen waltenden "Muss": er brauchte, als das gefährdetste Thier, Hülfe, Schutz, er brauchte Seines-Gleichen, er musste seine Noth auszudrücken, sich verständlich zu machen wissen – und zu dem Allen hatte er zuerst "Bewusstsein" nöthig, also selbst zu "wissen" was ihm fehlt, zu "wissen", wie es ihm zu Muthe ist, zu "wissen", was er denkt. Denn nochmals gesagt: der Mensch, wie jedes lebende Geschöpf, denkt immerfort, aber weiss es nicht; das bewusst werdende Denken ist nur der kleinste Theil davon, sagen wir: der oberflächlichste, der schlechteste Theil: – denn allein dieses bewusste Denken geschieht in Worten, das heisst in Mittheilungszeichen, womit sich die Herkunft des Bewusstseins selber aufdeckt. Kurz gesagt, die Entwicklung der Sprache und die Entwicklung des Bewusstseins (nicht der Vernunft, sondern allein des Sich-bewusst-werdens der Vernunft) gehen Hand in Hand. [Hervorhebung durch Verf.]... Der Zeichen-erfindende Mensch ist zugleich der immer schärfer seiner selbst bewusste Mensch; erst als sociales Thier lernte der Mensch seiner selbst bewusst werden, – er thut es noch, er thut es immer mehr. – Mein Gedanke ist, wie man sieht: dass das Bewusstsein nicht eigentlich zur Individual-Existenz des Menschen gehört, vielmehr zu dem, was an ihm Gemeinschafts- und Heerden-Natur ist; dass es, wie daraus folgt, auch nur in Bezug auf Gemeinschafts- und Heerden-Nützlichkeit fein entwickelt ist, und dass folglich Jeder von uns, beim besten Willen, sich selbst so individuell wie möglich zu verstehen, "sich selbst zu kennen", doch immer nur gerade das Nicht-Individuelle an sich zum Bewusstsein bringen wird, sein "Durchschnittliches", – dass unser Gedanke selbst fortwährend durch den Charakter des Bewusstseins – durch den in ihm gebietenden "Genius der Gattung" – gleichsam majorisirt und in die Heerden-Perspektive zurück-übersetzt wird. Unsre Handlungen sind im Grunde allesammt auf eine unvergleichliche Weise persönlich, einzig, unbegrenzt-individuell, es ist kein Zweifel; aber sobald wir sie in's Bewusstsein übersetzen, scheinen sie es nicht mehr…

Diess ist der eigentliche Phänomenalismus und Perspektivismus, wie ich ihn verstehe: die Natur des thierischen Bewusstseins bringt es mit sich, dass die Welt, deren wir bewusst werden können, nur eine Oberflächen- und Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt, – dass Alles, was bewusst wird, ebendamit flach, dünn, relativ-dumm, generell, Zeichen, Heerden-Merkzeichen wird, dass mit allem Bewusstwerden eine grosse gründliche Verderbniss, Fälschung, Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist. Zuletzt ist das wachsende Bewusstsein eine Gefahr; und wer unter den bewusstesten Europäern lebt, weiss sogar, dass es eine Krankheit ist. Es ist, wie man erräth, nicht der Gegensatz von Subjekt und Objekt, der mich hier angeht: diese Unterscheidung überlasse ich den Erkenntnisstheoretikern, welche in den Schlingen der Grammatik (der Volks-Metaphysik) hängen geblieben sind. Es ist erst recht nicht der Gegensatz von "Ding an sich" und Erscheinung: denn wir "erkennen" bei weitem nicht genug, um auch nur so scheiden zu dürfen. Wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen, für die "Wahrheit": wir "wissen" (oder glauben oder bilden uns ein) gerade so viel als es im Interesse der Menschen-Heerde, der Gattung, nützlich sein mag: und selbst, was hier "Nützlichkeit" genannt wird, ist zuletzt auch nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene verhängnissvollste Dummheit, an der wir einst zu Grunde gehn. (KSA 3, 590 ff.)

Es ist einigermaßen überraschend, wie "modern" sich Nietzsche hier zur Frage des Bewußtseins äußert. Während er in diesem Zusammenhang das Gewissen als "Heerden-Gewissensbiß" psychologisiert, suchte Rée es als Zusammengesetztes entwicklungsgeschichtlich für Gattung und Individuum nachzuweisen. Vergleichen Sie dazu auch die Überlegungen Damasios (s. www.hwalther.de), der ja ebenfalls von einem vorsprachlichen und unbewußten Denken ausgeht und das "Gewissen" an die oberste Stelle setzt.

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2. Spekulationen um Nietzsches Sexualität

Es ist dies vielleicht die richtige Stelle, um auf die in neuerer Zeit sich häufenden "Vermutungen" hinsichtlich der sexuellen Prägung Nietzsches einzugehen, wo bezüglich der Kindheit und auch im Hinblick auf Elisabeth teilweise die wildesten Vermutungen angestellt werden. Verschiedene Autoren stellen diese Thematik mit offenbar recht verschiedenen Motiven in den Vordergrund, so etwa Prof. Dr. Hermann Josef Schmidt in seinem 4-bändigen "Nietzsche absconditus", Werner Ross in seiner bekannten Biografie "Der ängstliche Adler" und besonders Joachim Köhler. Von letzterem, der bereits mehrere Bücher zum Thema geschrieben hat, kenne ich nur "Friedrich Nietzsche und Cosima Wagner", Rowohlt TB, Sonderausgabe 1998, wohingegen ich dessen "Zarathustras Geheimnis" ganz bewußt links liegen ließ, da mir solche "Deutungen" wie etwa die "Homoerotik Nietzsches" völlig an den Haaren herbeigezogen scheinen. In neuerer Zeit ist in A&K 2/2002 ein weiterer Beitrag Köhlers in diese Richtung erschienen: Zarathustras Seele, in dem er sich in gewagten Spekulationen in Bezug auf homosexuelle Quellen Nietzsches ergeht.
Hier nun einige Beispiele für diese Diskussion:

Zunächst J. Köhler (aaO.)

"Er liebte seit Leipziger Studententagen Erwin Rohde..." (S. 118)

"Jahrelang hatte Nietzsche um den Freund geworben ..." (S. 122)

"Als Nietzsche am 31. August 1876 aus Bayreuth diese Zeilen über Paul Rée erhält, kann er diesen bereits als seinen neuen Lebensgefährten bezeichnen." (S. 132)

"Ihre Tage verbrachten die beiden in Nietzsches «durch geschlossene Fensterläden und zusammengezogene Vorhänge seiner Augen wegen in eine gewisse Dunkelheit versetzten Zimmer». Ein obskures Paar ..." (S. 132)

Solche Sätze sind in meinen Augen blanke Kolportage, die jeder Grundlage und auch jeden einigermaßen standhaltenden Beweises ermangeln, welche anzubringen der Autor auch gar nicht für nötig hält. Sie dienen weniger der Erhellung der Nietzscheschen Persönlichkeit als dem Anliegen, mit möglichst "wilden" Thesen Aufsehen zu erregen.

Ganz im Gegenteil spricht alles, was die Dokumente hergeben, bei der Anwendung gesunden Menschenverstandes gegen eine solche Interpretation, insbesondere das, was der Autor selbst anführt. Nietzsche hätte nie und nimmer nach Hause geschrieben: »er und ich haben große Freude an einander« (S. 132), wenn sich dahinter eine homoerotische Beziehung verborgen hätte – ausgerechnet der ehrpusselige Nietzsche (die Homosexualität hatte damals ja noch ein ganz anderes "Ansehen" und mit ganz anderen Konsequenzen zu rechnen als heute) soll sich damit quasi "outen"?

Umgekehrt wird ein Schuh daraus – für Nietzsche war es sonnenklar, daß in dieser Hinsicht nie auch nur der Hauch eines Gedankens zu solchen Vermutungen aufkommen konnte, und so hatte er keinerlei Bedenken, sich so zu äußern.

Ganz ebenso steht es mit der Nietzscheschen Bemängelung gegenüber Rohde, «daß Du von den päderastischen Verhältnissen so wenig sagst: und doch ist das Idealisieren des Eros und das reinere und sehnsüchtigere Empfinden der Liebespassion bei den Griechen zuerst auf diesem Boden gewachsen». Der «Eros», so resümierte er, war «in der besten Zeit» immer der «päderastische».(S. 122) Köhler will daraus wiederum einen Beweis für die Homoerotik Nietzsches machen, aber bei nur einigermaßen verständiger Interpretation sagt diese Stelle das genaue Gegenteil. Hätte der ja tatsächlich sehr "geschamige" Nietzsche Rohde wirklich dazu gedrängt, mehr über Päderastie sich auszulassen, wenn er genau dieses damals recht gefährliche Verhältnis – man denke nur an Oscar Wilde! – mit ihm geteilt hätte?! Niemals. Nur weil er völlig frei von solchen Gedanken war, konnte er sich so naiv und idealistisch äußern.

Wenn schon Psychologie, dann doch bitte keine gewaltsam gegen den Strich gebürstete und auf absurde Unterstellungen abzielende, die vorher weiß, wo sie hin will, und nun alles Passende und Unpassende so dreht, daß es die eigene vorgefaßte Meinung zu stützen scheint. Dies ist übrigens auch der Grundfehler bei Freud schon, weshalb dessen Ansätze im Hinblick auf "Sexualität" oder "Ödipus" heute zu Recht überwiegend abgelehnt werden.

So taucht auch aus gutem Grunde bei Köhler die Lou-Geschichte kaum auf, würde sie seinen Ansatz ja doch in Frage stellen: Wer mit einigermaßen gesundem Menschenverstand Ausgestattete käme auf die Idee, daß Nietzsche ausgerechnet seinen eigenen "Sexualpartner" Rée (wie Köhler ja unterstellt) zu einem Heiratsantrag an Lou beauftragen würde? Das ist nachgerade hanebüchen. Und natürlich würde auch die Liaison Lou-Rée und die Eifersucht des letzteren auf Nietzsche (wohlgemerkt: bezogen auf Lou, nirgends bezogen etwa auf Nietzsche!) keinesfalls ins Bild passen, und so hört man auch nichts davon. Nach Köhlers Auslassungen hätte Rée ja seine Eifersüchteleien an Nietzsche richten müssen – einfach absurd.

Auch W. Ross versucht Nietzsche unter einer "psychologischen Tiefenperspektive" anzugraben; ich habe dessen Biographie (bei allen Verdiensten) in manchem jedenfalls negativ "erlebt" ... Er zeigt oft recht wenig Sympathie für sein "Objekt" Nietzsche, und er stellt sich mit seiner "Psychologie des Mittelmaßes" über Nietzsche. Er argumentiert etwa so: Hätte N. sich nur mit genau so normalen Augen wie wir selbst in der Realität umgeschaut, so hätte er es genauso gut gehabt, wie wir "Normalen" auch ... Wie wahr.

Auch Ross spielt bereits auf André Gide an (S. 565), beläßt es allerdings bei solch verschleierten Andeutungen. Jedenfalls arbeitet auch er, ganz wie Köhler, mit "psychologischen Unterstellungen", und liest so in ihn hinein, was er aus ihm herauslesen will. Ob das "Spurenlesen" ist, wenn man bereits vorher weiß, wo diese Spur "enden" wird? "Die Tiefenpsychologie mag einen sado-masochistischen Zug konstatieren, dessen letztes dunkles Ziel die Selbstzerstörung ist." (S. 105) Da werden Sätze in den Raum gestellt, für die man nicht einmal die Verantwortung übernimmt, nach dem Motto: Es wird schon was hängen bleiben – eines der Lieblingsverfahren des Autors. Ein besonderes "Glanzstück" in dieser Hinsicht: Nietzsche als "Über-Betrüger", den es "kitzelt" (S. 321). Da setzt man einfach mit ein paar Fragezeichen Vermutungen in die Luft, und schon hat man sein "Objekt" in dasjenige "Licht" gerückt, in dem man es sehen möchte. Eine derartige Schreibweise (durchaus auch im Stil) halte ich nicht für seriös, sondern für "reißerisch" – einen gewaltsamen Versuch, sich abzuheben auf Kosten des beschriebenen "Objekts". Das hat Nietzsche jedenfalls meiner Meinung nach nicht verdient, und der Forschung und Erkenntnis dient es auch nicht.

Anders sind die Spurenleseversuche von H.J. Schmidt zu sehen, der sich in "Nietzsche absconditus" auf weit über 2000 Seiten um eine Deutung Nietzsches aus seiner Kindheit und Jugend heraus bemüht. Hier geht es nicht etwa wie bei Köhler darum, mit einseitig zugespitzten Thesen, und mögen sie auch noch so unwahrscheinlich sein, Aufsehen zu erregen; auch versucht er nicht aus einer der Empathie ermangelnden Sicht wie Ross sein "biografisches Opfer" mittels tiefenpsychologischer Unterstellungen zur Strecke zu bringen, um dem Mittelmaß ein Lob zu singen, und das ausgerechnet an Nietzsche ... ( – In diese Problematik gerät übrigens stets alle Art von "Tiefenpsychologie": benötigt sie doch eine "Meßlatte" für ihre "Feststellungen", ob dieser Umstand ausgesprochen wird oder nicht; diese besteht dann aber entweder in der zufälligen Konstitution des Beurteilenden – der Fall Freud, weshalb er seine subjektiven "Merkmale" der Sexualität wie der Vaterproblematik ["Ödipus"] zu allgemeinen Merkmalen machte – oder es wird eine "durchschnittliche Normalität" zugrundegelegt, wie es Ross meint tun zu sollen.)

H. J. Schmidt geht es jedenfalls um eine echte, vor allem vorurteilsfreie und von Sympathie getragene Deutung Nietzsches, um daran zu zeigen, aus welchem "Nährboden" heraus sich Nietzsche zu seiner Sicht durcharbeitete, und inwiefern es gerade diese deshalb von Nietzsche bekämpften abendländisch-christlichen Konditionierungen sein könnten, die auch heute noch individuell und gesellschaftlich verhängnisvoll wirken – worin denn seine eigentliche Modernität liegen würde. Dazu hält es Schmidt mit guten Gründen für notwendig, daß man sich vor allem den Weg Nietzsches von der Kindheit über die Jugend ansehen sollte, denn jener Nietzsche, der in Basel sogleich mit Bildungsvorträgen auftritt und sich mit seinem ersten Buch, der "Geburt der Tragödie", seine akademische Laufbahn "verdirbt", fällt weder voraussetzungslos vom Himmel – also sollte man diese Voraussetzungen kennen – noch ist dieses Ausscheren aus der Philologie-Professur ein plötzliches oder zufälliges Ereignis. Dann steht man hier aber vor Fragen, und bei einem derartig umfangreichen Jugendnachlaß wie dem Nietzscheschen ist man in der glücklichen Lage, dies auch nachvollziehen zu können. Machen Sie sich selbst ein Bild an Hand zweier Gedichte des 13-Jährigen von 1858. Im ersten, den "Zwei Lerchen", sehen wir bereits die Problematik des "auf eine Sekunde den Übermenschen erreichen" vorgeprägt, und im "Colombo" ist er bereits unterwegs nach unbekannten Gestaden ...

Das Gedicht »Zwei Lerchen« ist entstanden zwischen März und Anfang Mai 1858; zu finden bei: H. J. Schmidt, Nietzsche absconditus – Kindheit Bd. 1, S. 346

Zwei Lerchen.

Ich hörte zwei Lerchen singen
Sie sangen so hell und klar
Und flogen auf freudigen Schwingen
Am Himmel so wunderbar.

Die eine nahte der Sonne
Geblendet doch schrak sie zurück
Wohl dachte sie oft noch mit Wonne
An dies vergangene Glück.

Doch wagt sie nicht zu erheben
Die Schwingen nach jenem Strahl
Sie fürchtet, es möchte ihr Streben
Ihr werden am Ende zur Qual.

Die andre in mutigem Drange
Schwingt sich zu der Sonne heran
Doch schließt sie die Augen so bange
Auf nie noch betretener Bahn.

Sie kann doch nicht widerstehen
Sie fühlt unbesiegbare Lust
Die himmlischen Strahlen zu sehen
Sich selber kaum mehr bewußt.

Sie blickt in die strahlende Sonne
Sie schaut sie an ohne Klag
In himmlischer Freude und Wonne,
Bis endlich ihr Auge brach. – –??!!!

Weiter aufschlußreich: ein erstes Kolumbus-Gedicht, das Nietzsche jedenfalls noch vor der Übersiedlung nach Pforta (5. Okt. 1858) verfaßt; hier die letzten beiden (von drei) Strophen, welche in Einem den geistigen Standort und die Stimmung des 13-Jährigen spiegeln (aaO. S. 359):

Colombo

...

Die Winde rauschen durch die Segel hin
Nach Westen schau ich bang und zweifelnd zu
Kein Hoffnungsstrahl erheitert meinen Sinn
Den müden Augen fehlt schon lang’ die Ruh.
Im Zweifeln ringt mein Geist! Hat mich betrogen
Ein Traumbild und die Ferne vorgelogen
Schon steigt die Sonne höher, strahlt und glüht
Mein Mut entflieht.

Doch seh ich recht Ein muntres Vögelpaar
Das mit Gesang sich in den Lüften wiegt
O laß von deinem Grimm du wilde Schaar
Da nimmer dieses Hoffnungszeichen trügt
Nicht ist mehr fern das Land noch heut erreichen
Wir unser Ziel, wo alle Zweifel weichen
Auf! Rausche Schiff hin durch die Fluth
Nur Muth, nur Muth.

Wir sehen: Nietzsche nimmt her das Lerchenthema wieder auf ("glühende Sonne", "Vogelpaar") – doch diese Lerchen wiegen sich unter Gesang im Sonnenlicht, kein Grund den Mut sinken zu lassen, sondern im Gegenteil ein Hoffnungszeichen, das Ziel aller Zweifel auch zu erreichen – und noch 1882 schreibt er in Genua sein berühmtes dazu paralleles Kolumbus-Gedicht, das er Lou zum Abschied schenkt. Die Kontinuität der grundlegenden Gedankengänge Nietzsches von der Kindheit bis in seine reifen Jahre wird hier wohl überdeutlich.

Freundin! - sprach Columbus - traue
keinem Genueser mehr!
Immer starrt er in das Blaue -
Fernstes lockt ihn allzusehr!

Wen er liebt, den lockt er gerne
Weit hinaus in Raum und Zeit
Über uns glänzt Stern bei Sterne
Um uns braust die Ewigkeit!

Nehmen Sie jetzt noch die für die "Germania" gefertigten Arbeiten des 17-jährigen Pforteschülers vom 1862 dazu: "Fatum und Geschichte" bzw. "Willensfreiheit und Fatum" (ausführlich zitiert bei Janz, Nietzsche Bd. I) – so werden Sie sehen, daß dort alle wichtigen Themen und Denkrichtungen des künftigen Philosophen bereits präludierend vorgeweggenommen sind. Zwar läßt sich hier einerseits die Feuerbach-Lektüre bis in die Formulierung hinein nachweisen ("Daß Gott Mensch geworden ist, weist nur darauf hin, daß der Mensch nicht im Unendlichen seine Seligkeit suchen soll, sondern auf der Erde seinen Himmel gründe; der Wahn einer überirdischen Welt hat die Menschengeister in eine falsche Stellung zu der irdischen Welt gebracht: er war das Erzeugnis einer Kindheit der Völker ..." Janz, Nietzsche Bd. I, S. 103), andererseits ist die Thematik Feuerbachs bereits jetzt himmelweit von derjenigen Nietzsches verschieden; die Thesen Feuerbachs stellen vielmehr im entstehenden Denkgebäude Nietzsches nur kleine Mosaiksteine dar, er zielt von Anfang an in eine ganz andere Richtung.–

H. J. Schmidt untersucht hypothetisch weiter – um jetzt zur Schwester zu kommen – die Möglichkeit einer inzestuösen Beziehung der Geschwister; die am 10. Juli 1846 geborene Elisabeth ist knappe zwei Jahre jünger als Friedrich. Ohne dies im zeitlichen Ablauf genauer zu schildern, geht er dabei davon aus, daß die beiden Kinder ein Schlafzimmer teilen und zitiert aus verschiedenen modernen Autoren (Kinsey, Bornemann), um seine diesbezüglichen hypothetischen Vermutungen zu erhärten. M.E. läßt sich dies jedoch durch die vorhandenen Berichte, Briefe und Gedichte nicht nur nicht erhärten, sondern bei verständiger Auslegung eher widerlegen:

a) Solange die Großmutter noch lebte (sie starb im April 1856) teilten sich die Kinder auf Grund der beengten Wohnsituation ein Schlafzimmer; dies geht etwa aus der Aufzeichnung Elisabeths zu Sylvester 1855 hervor, wo beide das Neue Jahr erwarten. Die Unbefangenheit der dortigen Schilderung (Nietzsche-Chronik, Hanser-Verl., S. 30) scheint mir allerdings ein starker Beweis gegen die Vermutungen Schmidts. Wäre hier etwas zu verbergen gewesen, hätte sich die Schwester später gehütet, darüber überhaupt zu berichten. Vielmehr weist die innere Stimmigkeit des Berichts darauf hin, daß er auf echter Erinnerung beruht – wenn Elisabeth Falsches oder Erfundenes "überliefert", verwickelt sie sich meist in sofort kenntliche grobe Widersprüche. Ein Beispiel dafür wurde bereits in der Dokumentenseite zu Lou II vorgeführt.

b) Dagegen spricht weiter auch die resolute Sorgfalt, mit der sich die Mutter Franziska um die beiden Kinder kümmerte, die im übrigen sehr viel Zeit zu dieser Betreuung hatte, da der Haushalt nicht von ihr, sondern "von Augustchen mit Miene" geführt wurde (Chronik S. 18). Die Kinder standen mithin unter steter Betreuung der im Nebenzimmer schlafenden Pfarrerswitwe, die beide Kinder "jeden Abend auf dem Rücken" auch noch höhern Alters ins Bett trug. (Übrigens bestreitet hier Franziska energisch das "Fabulieren" ihrer Tochter über die Jugendzeit, von einem gravierenden – und sich damit negativ auswirkenden – Einfluß der Tanten und Großmutter – wie ja oft einfach unterstellt wird –, könne keinesfalls die Rede sein!)

c) Nach dem Tod der Großmutter bezieht die Familie eine eigene Wohnung und Friedrich bekommt offenbar ein eigenes Zimmer (KSB 1, Nr. 11, S. 6), so daß ab diesem Zeitpunkt die von Schmidt unterstellte Voraussetzung entfällt.

Wir sollten uns von der Freud’schen (und wohl aus dessen diesbezüglicher eigener subjektiver Konstitution herrührenden) Fehlspekulation, hinter allen Handlungsantrieben die Sexualität zu vermuten und alle "höheren" Bestrebungen nur als "Sublimationen" des Sexualtriebes zu betrachten, endlich befreien. Zwar kann als sicher unterstellt werden, daß für Nietzsche der Umgang mit der eigenen Sexualität sowohl auf Grund seiner Herkunft (Pfarrhausatmosphäre, umstellt von weiblicher Anleitung seitens Mutter, Großmutter und Tanten) wie seiner individuellen, von der Anlage zur Reflexion geprägten Persönlichkeit nicht einfach war; eine "regelrechte" Erfüllung der sexuellen Antriebe, wie sie in unserer freizügigen Moderne möglich ist, und damit deren harmonische Integration in die eigene Existenz war ihm wohl nicht vergönnt. Vielmehr läßt sich aus allem, was wir dazu wissen, nur schließen, daß sich auch hier die subjektive Lebenspraxis des Individuums und die objektiv-reflexive Sicht des Philosophen nicht entsprechend zur Deckung bringen ließen (ganz ähnlich widersprechen sich denn ja auch die angestrebte (Un-)Ethik des Übermenschen mit der tatsächlich gelebten Moral der Privatperson Friedrich Nietzsche). Abgesehen von der Beziehung zu Lou sind seine Heiratsversuche so konventionell wie überraschend – Versuche, sich ins Allgemeine zu betten, die ihm ebenso mißlingen (müssen) wie Kierkegaard. Von daher wird dann der Umgang mit der Sexualität ausschließlich ins Reflexive verlegt (eine deutliche Parallele zum Umgang Nietzsches mit "Natur" insgesamt: der nirgends ein ästhetisches Eintauchen, sondern Reflexion ist); sein Lob der "großen Weisheit des Leibes" (was ja die Sexualität mit einbezieht) und die Kritik der Leibfeindlichkeit des Christentums samt der daraus erwachsenen verlogenen Doppelmoral, die den Menschen zum Versteckspiel vor sich selbst zwingt, beides bringt ihn für die eigene reale Existenz noch lange nicht in die Lage, die eigene Sexualität harmonisch in diese zu integrieren. Erst mit dem Verlust der rationalen Kontrolle schaffen sich diese Antriebe Bahn, wie es die zurückhaltende Schilderung Overbecks aus Turin bzw. die Aufzeichnungen aus der Jenaer Nervenklinik zeigen. (Darin – etwa im Wahnzettel an Cosima, in dem er seine Liebe gesteht, oder in seinem "Wunsch nach Frauen" in Jena – sprechen sich jedenfalls keinerlei "homoerotischen Neigungen" aus, wie sie von Köhler unterstellt werden, und die man dann gerade hier zu Tage treten hätte sehen müssen.)

Es dürfte für dieses Terrain mithin dasselbe gelten wie für die real-ethische Haltung Nietzsches, insbesondere auch in Bezug auf seine Familie, welche seinen hauptsächlichen Umgang bildete: Abgesehen von kurzfristigen Versuchen der Befreiung, insbesondere bewirkt durch die Liaison mit Lou, begnügt er sich mit der Herbeiführung und Aufrechterhaltung eines Status quo, der es ihm ermöglicht, seinem Werk zu leben. Ungereimtheiten und Widersprüche werden nicht in der Realität gelöst, sondern auf einer "höheren Ebene", im Hinblick auf eine zukünftige Menschheitsentwicklung "erlöst" – Zarathustra, Siegfried und Parsifal sind trotz aller vordergründigen Gegensätzlichkeit dennoch wesensverwandt.

Auch in der Beziehung zu Lou spielt, und zwar durchaus von beiden Seiten her, das Sexuelle keinerlei ernstzunehmende Rolle, von den Mißverständnissen Lous einmal abgesehen, wenn sie Nietzsches Werben um sie damit identifiziert. Liebe, Fortpflanzung, das Geschlechtliche, all dies sind Dinge, über die Nietzsche mit Lou in Tautenburg ausdrücklich reflektiert – es widerspricht aber jeglicher Erfahrung, daß man ausgerechnet mit demjenigen über diejenigen Sachverhalte reflektiert, zu denen man ihn in realer Handlung erst drängen will. Wohl will sie Nietzsche "für sich haben" – aber in ganz anderer Weise, als die 21-jährige Lou das wohl in der Lage ist, sich vorzustellen – und dazu muß er sie, wenn meine Vermutung richtig sein sollte, allerdings von Rée "losketten": Warum fährt er mit ihr ausgerechnet nach Tribschen – dem Ort, wo ihm das Verhältnis des "Meisters" und dessen (von ihm "bestverehrter") Muse Cosima vorgelebt wurde und läßt Lou in sonst nirgends so gezeigter Offenheit daran teilnehmen? Wiederholt spricht er sie als "wesensverwandt", als Schülerin und vor allem als "Erben" an – meiner Meinung nach sah er in Lou die Chance, daß sie seine "Cosima" werden, jene Leer-Stelle mit lebendigem Leben erfüllen könnte, die nach dem Zerwürfnis mit Wagners als offene Wunde zurückgeblieben war. So gesehen war Tautenburg auch Versuch und Wagnis, der eigenen Philosophie Realität im wirklichen Leben zu geben, wie Wagner vom bloßen Denken ins Handeln überzugehen, und zugleich damit die isolierte Einsamkeit zu überwinden. All dies projizierte er auf Lou – und überforderte sie damit heillos.

Weitere Aspekte in der genannten Hinsicht wurden inzwischen von mir auf anderen Seiten dieses Projekts erörtert:
Das Verhältnis zu dem Dichter (und ehemaligen Pfortaschüler) Ernst Ortlepp stelle ich hier vor unter dem Titel: Liebes- oder Bildungserlebnis? Nietzsche und Ortlepp. Anstößiges aus einem Schüleralbum.
Die psychanalytische Deutung kritisiere ich in einer Rezension des neuen Buches von Wolf Dietrich: Nietzsche Oedipus, in welchem auch das verhängnisvolle Verhalten Richard Wagners gegenüber Dr. Eisler ausführlich vorgestellt wird.

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3. Lous Aufzeichungen zum Ende des Verhältnisses (Lebensrückblick S. 84 ff.):

In einem meiner Briefe aus Tautenburg an Paul Rée, vom 18. August, steht schon: »Ganz im Anfange meiner Bekanntschaft mit Nietzsche schrieb ich Malwida von ihm, er sei eine religiöse Natur und weckte damit ihre stärksten Bedenken. Heute möchte ich diesen Ausdruck noch doppelt unterstreichen.« »Wir erleben es noch, daß er als der Verkündiger einer neuen Religion auftritt und dann wird es eine solche sein, welche Helden zu ihren Jüngern wirbt. Wie sehr gleich denken und empfinden wir darüber, und wie nehmen wir uns die Worte und Gedanken förmlich von den Lippen. Wir sprechen uns diese 3 Wochen förmlich todt, und sonderbarerweise hält er es jetzt plötzlich aus, cirka 10 Stunden täglich zu verplaudern.« »Seltsam, daß wir unwillkürlich mit unsern Gesprächen in die Abgründe geraten, an jene schwindligen Stellen, wohin man wohl einmal einsam geklettert ist um in die Tiefe zu schauen. Wir haben stets die Gemsenstiegen gewählt, und wenn uns jemand zugehört hätte, er würde geglaubt haben, zwei Teufel unterhielten sich.«

Es konnte nicht fehlen, daß in Nietzsches Wesen und Reden mich gerade etwas von dem faszinierte, was zwischen ihm und Paul Rée weniger zu Worte kam. Schwangen doch für mich dabei Erinnerungen oder halb unwissentliche Gefühle mit, die aus meiner allerkindischsten und doch persönlichsten, unvernichtbaren Kindheit herrührten. Nur: es war zugleich eben dies, was mich nie hätte zu seiner Jüngerin, seiner Nachfolgerin werden lassen: jederzeit hätte es mich mißtrauisch gemacht, in der Richtung zu schreiten, der ich mich entwinden mußte, um Klarheit zu finden. Das Faszinierende und zugleich eine innere Abkehr davon gehörten ineinander.

Nachdem ich für den Herbst nach Stibbe zurückgereist war, kamen wir noch einmal mit Nietzsche für drei Wochen (?) im Oktober in Leipzig zusammen. Niemand von uns beiden ahnte, daß es zum letzten Male sei. Dennoch war es nicht mehr ganz so wie anfangs, obwohl unsere Wünsche für unsere gemeinsame Zukunft zu Dritt noch feststanden. Wenn ich mich frage, was meine innere Einstellung zu Nietzsche am ehesten zu beeinträchtigen begann, so war das die zunehmende Häufung solcher Andeutungen von ihm, die Paul Rée, bei mir schlecht machen sollten – und auch das Erstaunen, daß er diese Methode für wirksam halten konnte. Erst nach unserm Abschied von Leipzig brachen dann Feindseligkeiten auch gegen mich aus, Vorwürfe hassender Art, von denen mir aber nur ein vorläufiger Brief bekannt wurde. Was später folgte, schien Nietzsches Wesen und Würde dermaßen widersprechend, daß es nur fremdem Einfluß zugeschrieben werden kann. So, wenn er Rée und mich gerade den Verdächtigungen preisgab, deren Haltlosigkeit er selbst am besten kannte. Aber das Häßliche aus dieser Zeit wurde mir durch Paul Rées Fürsorge – um viele Jahre älter verstand ich das erst – einfach unterschlagen; sogar scheint es, daß Briefe von Nietzsche an mich nie zu mir gelangt sind, die mir unbegreifliche Verunglimpfungen enthielten. Und nicht nur dies: Paul Rée unterschlug mir auch die Tatsache, wie stark die umlaufenden Aufhetzereien auch seine Familie gegen mich aufbrachten, bis zum Haß, wobei allerdings insbesondere die krankhaft eifersuchtsvolle Veranlagung seiner Mutter mitsprach, die diesen Sohn ganz für sich allein zu haben begehrte.

Viel später stand Nietzsche wohl selber unwillig zu den von ihm veranlaßten Gerüchten; denn wir erfuhren durch Heinrich von Stein, der uns nahestand, folgende Episode aus Sils Maria, wo er Nietzsche einmal besucht hat (nicht ohne unser Einverständnis damit erst eingeholt zu haben). Er plädierte vor Nietzsche für die Möglichkeit, die entstandenen Mißverständnisse zwischen uns Dreien zu beseitigen; doch Nietzsche antwortete kopfschüttelnd: »Was ich getan, das kann man nicht verzeihen.«

In der Folgezeit habe ich die Methode Paul Rées mir gegenüber selber befolgt: mir all das fernzuhalten, indem ich nichts mehr darüber las, auf die Feindseligkeiten des Hauses Nietzsche ebensowenig einging wie überhaupt auf die Nietzsche-Literatur nach seinem Tode. Mein Buch »Friedrich Nietzsche in seinen Werken« schrieb ich noch voller Unbefangenheit, nur dadurch veranlaßt, daß mit seinem eigentlichen Berühmtsein gar zu viele Literatenjünglinge sich seiner mißverständlich bemächtigten; mir selbst war ja erst nach unserm persönlichen Verkehr das geistige Bild Nietzsches recht aufgegangen an seinen Werken; mir war an nichts gelegen als am Verstehen der Nietzschegestalt aus diesen sachlichen Eindrücken heraus. Und so, wie mir sein Bild – in der reinen Nachfeier des Persönlichen – aufging, sollte es vor mir stehenbleiben."

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3. Max Kesselring, Nietzsche und sein Zarathustra in psychiatrischer Beleuchtung,
AEHREN-VERLAG, Affoltern am Albis, 1954

Wie schon oben gezeigt, wird nicht nur in neuer Zeit die Sicht auf Nietzsche aus der tiefenpsychologischen Perspektive versucht, vielmehr haben sich schon von Anfang an etwa Möbius und später Podach und Jaspers um eine pyschotherapeutische Einordnung bemüht – einen Überblick gibt Lange-Eichbaum/Kurth, Genie, Irrsinn und Ruhm, Bd. 7 (s. die Seite Krankheitsgeschichte). Im Folgenden stelle ich (fast) unkommentiert – weil für sich selbst sprechend – einige Zitate aus diesem Buch, in dem auf 153 Seiten die Entstehung der 4 Teile des Zarathustra "beleuchtet" wird, zusammen. Das Verfahren des Autors besteht in der Hauptsache darin, "manische" Text- und zeitlich zugehörige "depressive" Briefstellen einander gegenüberzustellen, der Rest ergeht sich in Behauptungen des Autors.

(S. 25 f.): Im Sommer, der darauf folgte, hat N. zum ersten und letzten Mal versucht, seinen «Glauben an den Rausch» ins praktische Leben zu übertragen. Er bekam von seiner mütterlichen Freundin aus Rom die Mitteilung, daß eine junge Studentin der Philosophie, Lou Salomé, die seine Schriften schätze, bereit wäre, ihm bei seinen Arbeiten zu helfen und sich bei ihm weiter auszubilden. Sofort geriet N. in das höchste Entzücken und bevor er sie auch nur gesehen hatte, schrieb er sowohl an den Freund Dr. Rée als an Overbeck von einer «zweijährigen Ehe», die er bereit sei, in Anbetracht einer solchen «Beute» in Kauf zu nehmen. Die Geschichte dieser Verliebtheit ist für N. so charakteristisch, daß sie eine besondere ausführliche Darstellung verdient. [Die dann allerdings ausbleibt! – der Verf.] Als Beispiel, wie weit ihn seine Stimmungen die Wirklichkeit verkennen ließen, sei nur erwähnt, daß er sogar nach wiederholten Abweisungen seiner Heiratsanträge ihrer Mutter schreiben konnte, er habe sich mit der Tochter verlobt!
N. war damals 38 Jahre alt. Nachdem er alle Höhen und Tiefen seiner Stimmungen durchgemacht hatte und das Erlebnis, wie leicht vorauszusehen war, im Oktober mit einer Enttäuschung endete, wurde der Philosoph erneut das Opfer eines maßlosen Mißtrauens, eines wahnsinnigen Hasses und einer unbezwinglichen Rachsucht.
Mitten aus solchen quälenden Verstimmungen heraus ist dann im Januar 1883 das erste Buch des «Zarathustra» entstanden, in dem das eben Erlebte noch in manchen Andeutungen nachzittert, und rasch hintereinander folgten die Fortsetzungen. Die bisher übliche Sprache in Prosa genügte ihm nicht mehr, um die manisch-überschwänglichen Gefühle der «Größe», der «Vornehmheit» und der «Macht» auszudrücken, in denen er sich als ein «Gehobener» und «Auferstandener» vorkam; nur das religiöse Pathos der Propheten-Bücher des Alten Testamentes konnte solchen Hochstimmungen gerecht werden.

(S. 29 ff.): Da er nie aufhören kann, sich «Masken» aufzusetzen und deshalb auch seine Erlebnisse dem Leser nur in immer neuen Verkleidungen vor Augen stellt, kann es nur dem genauen Kenner seiner Biographie und seiner Werke gelingen, hier zuverlässigen Einblick zu gewinnen. [Dies immer wieder die einzige Art der Beweisführung, die Kesselring anzubieten hat.]
Der Zarathustra enthält ferner nicht nur die «Erlebnisse», sondern auch alle Folgerungen, die der Philosoph daraus gezogen hat. Es gibt keine bessere Uebersicht über die ganze Philosophie N.s als der Zarathustra; alle späteren Werke wiederholen nur immer wieder die Ueberzeugungen, die hier ausgesprochen sind.
Außer dem Lou-Erlebnis im Sommer 1882 gibt es in der früheren Entwicklungszeit N.s keinen Zeitraum, wo die krankhaften manisch-depressiven Erregungen so entscheidend auf das Denken und Handeln des Philosophen gewirkt hätten, wie der Anfang des Jahres 1883, als der Zarathustra I entstand. Da der Laie kaum über so viel Erfahrung und Unterscheidungsvermögen verfügt, um aus den Werken allein das Krankhafte herauszufühlen, muß er sich, wenn er zu einem sicheren Urteil kommen will, vor Allem an die Briefe halten, die damals entstanden.
In der Korrespondenz mit Peter Gast klagt N. noch am 10. Januar 1883: «Inzwischen fehlte es mir an Vernunft und so war ich nicht im Stande, Ihren Brief zu beantworten, nicht einmal, ihn richtig zu empfinden. Es war mir, als ob aus einer ungeheuren Fremde her jemand zu mir spräche.» Aber schon am 1. Februar wird die Vollendung des Zarathustra I angekündigt, nicht, ohne nochmals einen Rückblick auf die eben verflossene Zeit zu werfen: «Meine Gesundheit hat sich wieder an Zustände gewöhnt, welche ich hinter mir glaubte: es war eine große Leib- und Seelenquälerei ... Ein Glück bleibt es bei alledem, wenn man in der Einsamkeit mit sich selber fertig werden kann» . . . Und nun ist plötzlich, innerhalb von zehn Tagen, mitten in einem kalten und regnerischen Winter, der «Zarathustra I» fertig geworden, der nach all den Selbstquälereien und Zweifeln einen neuen «Sieg» verkündet, in dem sich das Selbstbewußtsein wie schon im «Sanctus Januaris» des Vorjahres zu ungeahnter Höhe erhebt und sich neue Horizonte dem Blick erschließen. Die Aussicht auf den «Uebermenschen» hat sich aufgetan. Ganz plötzlich ist der Umschlag erfolgt; «sofort», ohne Uebergang ist N. «wieder seiner Herr geworden». Nicht eine ruhige organische Entwicklung, sondern unversehens, wie dies bei manisch-depressiven Kranken die Regel ist, bricht diese Enthemmung durch wie ein angeschwollener Strom, der plötzlich die engen Dämme zerreißt und sich nun weit über das flache Land ergießt. Die peinliche psychische Spannung, die sich vorher als depressive Verkrampfung und Selbstquälerei manifestierte, hat über Nacht den Ausweg in ungehemmte Tätigkeit und in ein berauschendes Glücksgefühl gefunden. Was jetzt geschaffen wird, erscheint in wunderbarem Lichte: «Es ist mein Bestes», heißt es weiter in dem Briefe, «und ich habe einen schweren Stein mir damit von der Seele gewälzt. Es gibt nichts Ernsteres von mir und nichts Heiterers; ich wünsche von Herzen, daß diese Farbe – welche nicht eine Mischfarbe zu sein braucht – immer mehr zu meiner ‚Natur‘-Farbe werde.» Zarathustra «ist das Losgebundenste meiner Erzeugnisse» . . . «Mit diesem Buche bin ich in einen neuen ‚Ring‘ eingetreten – von jetzt an werde ich wohl in Deutschland unter die Verrückten gerechnet werden. Es ist eine wunderliche Art von ‚Moral-Predigten‘.»

(S. 67): Die Rachsucht ... und die Selbstquälerei ist bei Nietzsche nie ganz erloschen; sie fand immer neue Nahrung in den beständig sich wiederholenden Verdüsterungen. Auch die Zarathustra-Stimmung vermochte solche Erinnerungen nicht ganz auslöschen, zumal der Glaube an einen ernsthaften Gott bei einem so haltlosen Manne nie tief verankert sein konnte. [Hier eine deutliche Stelle, an der Kesselring, der doch offenbar von einer Krankheit spricht, wenn er meint, Nietzsche als "Maniacus" einordnen zu sollen, diese dann auch noch in moralische Vorwerfbarkeit ummünzt! Daher denn auch das folgende Schlußurteil:]

(S. 146): Die «große Leidenschaft» bedeutet bei N. immer nur seine manische Exaltation. Nur eine solche erlaubt, hemmungslos und gewissenlos drauflos zu reden und heute dies, morgen das Gegenteil zu vertreten. Das ist nicht ... ein «vom höchsten Lebensmute beseelter Skeptizismus», sondern zerfahrener, aufgeregter Rededrang mit Gedankenflucht.


Gerne gestehe ich ein, mit Nietzsches Zarathustra und manchen seiner Aussagen, sei es im Ton, sei es im Inhalt, durchaus "Schwierigkeiten" zu haben - insbesondere vor allem deshalb, da er auf zwei unhaltbaren Grundaussagen beruht, dem "Willen zur Macht" sowie der "Ewigen Wiederkunft des Gleichen", und mehr noch wegen seiner vernunftwidrigen Un-Ethik ...
Doch eine solche Diagnose, wie Kesselring sie stellt, ist eher eine Diagnose über denjenigen, der sie stellt, als über den, der sie fällt.

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